Siebzig verweht I-V

Siebzig verweht I-V

Einband:
Kartonierter Einband
EAN:
9783608934571
Untertitel:
Die Tagebücher 1965-1996
Genre:
Briefromane & Tagebücher
Autor:
Ernst Jünger
Herausgeber:
Klett-Cotta Literatur
Auflage:
1. Auflage
Anzahl Seiten:
2534
Erscheinungsdatum:
31.08.1998
ISBN:
978-3-608-93457-1

Als Höhepunkt des Tagebuchwerkes, das Ernst Jünger im Zweiten Weltkrieg mit den »Gärten und Straßen« begann, können die fünf Bände von »Siebzig verweht« gelten.


Jünger ist wie kein anderer Schriftsteller zum Repräsentanten seines Jahrhunderts geworden, weil er die ungeheuren Möglichkeiten ebenso in ihm wahrnahm wie die dämonischen Abgründe, und weil es ihm gelang, beide Wahrnehmungen von seiner Person abzulösen und in die Objektivität einer erzählenden und einer essayistischen Darstellung zu überführen. Er ist den Herausforderungen seiner Zeit mit Herausforderung begegnet und hat damit drei Generationen von Kritikern in Atem gehalten. Fast jedes seiner Bücher ließ das alte Feld von Zustimmung und Widerspruch neu entstehen und bewies gerade damit die unvergleichliche Lebendigkeit dieses Autors. Ein großes Werk der deutschen Literatur wird hier erstmals als Gesamtausgabe veröffentlicht.

Autorentext
Ernst Jünger, am 29. März 1895 in Heidelberg geboren. 19011912 Schüler in Hannover, Schwarzenberg, Braunschweig u. a. 1913 Flucht in die Fremdenlegion, nach sechs Wochen auf Intervention des Vaters entlassen 19141918 Kriegsfreiwilliger 1918 Verleihung des Ordens »Pour le Mérite«. 19191923 Dienst in der Reichswehr. Veröffentlichung seines Erstlings »In Stahlgewittern«. Studium in Leipzig, 1927 Übersiedlung nach Berlin. Mitarbeit an politischen und literarischen Zeitschriften. 19361938 Reisen nach Brasilien und Marokko. »Afrikanische Spiele« und »Das Abenteuerliche Herz«. Übersiedlung nach Überlingen. 19391941 im Stab des Militärbefehlshabers Frankreich. 1944 Rückkehr Jüngers aus Paris nach Kirchhorst. 19461947 »Der Friede«. 1950 Übersiedlung nach Wilflingen. 1965 Abschluß der zehnbändigen »Werke«. 19661981 Reisen. Schiller-Gedächtnispreis. 1982 Goethe-Preis der Stadt Frankfurt/Main.1988 Mit Bundeskanzler Kohl bei den Feierlichkeiten des 25. Jahrestags des Deutsch-Französischen Vertrags. 1993 Mitterrand und Kohl in Wilflingen. 1998 Ernst Jünger stirbt in Riedlingen.

Leseprobe
Siebzig verweht

Wilflingen, 30. März 1965

Das biblische Alter ist erreicht merkwürdig genug für einen, der in der Jugend niemals das dreißigste Jahr zu erleben gehofft hatte. Noch kurz vor dem dreiundzwanzigsten Geburtstag, im März 1918, hätte ich mit dem Teufel paktiert: »Gib mir dreißig Jahre, die aber sicher, und damit Punktum!«
Das aber nicht wegen der unmittelbar bevorstehenden großen Offensive, der ich eher mit Spannung und in der Hoffnung, daß wir das Schicksal noch einmal für uns wenden würden, entgegensah. In der Jugend ist eine trübe Grundstimmung häufig, als ob der Herbst seine Schatten vorauswürfe. Die Welt ist neblig, dunkle Blöcke ragen hervor. Allmählich wird die Sicht klarer; auch Leben muß gelernt werden.
Kann ich eine Erfahrung anläßlich des Datums mitteilen? Vielleicht diese: Die großen Abschnitte der Geschichte beginnen mit einer neuen eligion und jene im Leben des Einzelnen mit einem neuen Gebet. Das ist eine Wahrheit, aber kein Rezeot. Beter und Träumer ist jeder,auch wenn er es nicht weiß. Er vergißt, was er im Schlaf getrieben und im Namenlosen vernichtet hat. Wenn es ernst wird, zerbricht auch die Form des Gebets. [...]

Wilflingen, 17. November 1970

Erster Schnee. Ich legte Sonnenblumenscheiben vors Fenster; schon delektieren sich daran die Grünfinken. Aber die Kohlmeise pickte bereits an die Scheiben, als die Bretter noch leer waren.

Wilflingen, 12. Dezember 1970

[...] Die Drogenszene. Ein Vorpostengefecht mit enormen Verlusten; hier fehlt ein Clausewitz.
Oder: Streufeuer; ein Treffer ins Zentrum genügt. Tausend Eicheln fallen im Herbststurm, aus einer wächst ein Baum.
*

Im Märchen sind die Dinge von sich aus tätig, dem Menschen gegenüber autonom. Relikte davon haben sich in den Sprichwärtern erhalten: Der Krug »geht« so lange zum Brunnen, bis er bricht.
Er ist also lebendig, nicht nur belebt, und bildet kein exogenes, sondern ein endogenes Ganzes in Barnicks System.
Auch hinsichtlich der Unbefangenheit den Dingen gegenüber gibt es eine verlorene Unschuld, eine Riß, der sie wie Traum und Erwachen trennt. Von nun an wird die Welt aus Scherben zusammengesetzt. Sie gewinnt in den Teilen, was sie als Ganzes verliert. Herodot und Thukydides.
*

Auch im Verhältnis des Lesers zu seinem Autor gibt es Unterschiede wie zwischen Sexus und Eros: hier überwältigende Aktualität, dort stille, wachsende Liebe von Jahr zu Jahr.

Wilflingen, 3. April 1971

Gesät: Spinat, Mangold, Weiße Rüben, Braun- und Rosenkohl, Zuckermais, Petersilie. In der stahlblauen Nieswurz leuchten die weißen Staubfäden.

Korfu, 30. April 1976

[...] Wir fuhren an einem Eiland vorüber, das Böcklin als Modell zur »Toteninsel« gedient haben soll. Das schien mir glaubwürdig, obwohl ich das gleiche im Golf von Neapel gehört habe. Immerhin ein Zeichen dafür, daß ein Typus getroffen worden ist.
*

Abends wieder Leuchtkäferjagd. Auch Kinder, die sich daraus ein Vergnügen machten, trugen dazu bei und brachten ihre Beute in Streichholzschachteln an.

Wilflingen, 28. Oktober 1979

Nachmittags in Saulgau, zu einer Ausstellung des uvres von Otto Dix, dem ich leider nur ein Mal im Leben begegnet bin.
Gut gefiel mir ein Selbstbildnis von unerbittlicher Präzision, gut auch eine Szene mit Dämonen im Stil des Isenheimer Altars. Allerdings ergibt sich das Dilemma des Vergleiches in der Konfrontation. Diesen Einwand hat Horst Janssen in seinem genialischen Werk »Die Kopie« (1977) »nach« Goya, Watteau, Hokusai und ein paar Dutzend anderen nicht erst aufkommen lassen: »Den Laden, in dem ich geklaut habe, möchte ich genannt wissen.« Ein erstaunliches Werk, Hellenismus der abendländischen Malerei und das nebenbei.
Wie mögen unsere Maler, die den Zweiten Weltkrieg überlebten, wie Dix, Schlichter, Beckmann, Max Ernst nicht zu vergessen, der Zeit standhalten einmal innerhalb der nationalen, dann im Vergleich zur französischen Kunst? Mancher vielleicht wie einer, dem ein Mal im Leben ein unvergeßliches Gedicht gelang. Freilich, wer malen kann, hat eine gewisse Konstanz in der Leistung; das beruht schon auf der erworbenen Technik (die den Dichter eher schädigt) oder, wie die Alten meinten, auf größerer Nähe zum Banausentum.

Wilflingen, 1. Januar 1981

Blick aus dem oberen Fenster: das Land zeigt dunkle Konturen, wie oft, wenn es auf den Schnee geregnet hat.
Vor einigen Tagen hatten wir starken Nebel, den die Sonne nicht zu durchdringen vermochte, doch lösten sich ihre Strahlen zu einem rosigen Schimmer auf. Vielleicht hat es auf unserem oder anderen Planeten diese Stimmung im Großen gegeben: Helios kündigt sich durch Morgenröte an. Er wird, noch nicht gesehen, durch Jahrhunderte geahnt.
*

Ein neues Jahr beginnt. Persönlich könnte ich mit dem vergangenen zufrieden sein, indes beschattet der Mißstand der Welt und insbesondere des eigenen, zerrissenen Landes Tag und Nacht das Gemüt. Es ist ein Nachteil der historischen Erziehung, daß die Bindung nicht gelöst werden kann. Man irrt noch, wie Hannibal nach Zama, eine Zeitlang in der Fremde umher.
Der Wert des Menschen sinkt ständig; man darf sich nicht an die großen Worte halten, die billiger denn je geworden sind, sondern muß die Realitäten sehen. Zu ihnen zählt die Geiselnahme; von Banditen werden Millionen, von Staaten Milliarden als Kopfgeld verlangt. Der materielle Wert des Menschen wird maßlos übertrieben, das Geheimnis seiner Tugend nicht mehr gesehen.
Sodann die ungeheure und kurzlebige Verblendung der Massen in diesen Tagen wieder am großen Vorsitzenden Mao dokumentiert. Das Prachtgewand des noch vor kurzem Vergöttlichten blättert wie Rauschgold …


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