Wörter Sex Schnitt

Wörter Sex Schnitt

Medium:
Audio CD (CD/SACD)
EAN:
9783943157239
Untertitel:
Originaltonaufnahmen 1973
Genre:
Romane & Erzählungen
Autor:
Rolf Dieter Brinkmann
Herausgeber:
Belleville
Dauer:
657 Minuten
Erscheinungsdatum:
27.08.2013
ISBN:
978-3-943157-23-9

29 Tonbänder, Magnetbandspulen, fast alle in den originalen Schubern verpackt, mit nummerierten Aufklebern, beiliegend bekritzelte Zettel, handschriftliche stichwortartige Notizen der Audio-Nachlass von Rolf Dieter Brinkmann. Die Nummerierung stammt von der Witwe Maleen Brinkmann, die 30 Jahre nach dem Tod des Dichters, die Bänder zur Veröffentlichung freigibt.
Die Aufnahmen entstanden wie aus den Notizen, die einige wenige Datierungen enthalten, ersichtlich wird im Zeitraum von Oktober bis Dezember 1973. Brinkmann machte die Aufnahmen in Köln mit Uher- und Nagra-Tonbandgeräten für die Sendereihe Autorenalltag des Westdeutschen Rundfunks. Redaktion: Hanns Grössel. Die 48:44 Minuten lange Sendung wurde am 26.1.1974 ausgestrahlt. Insgesamt nahm Brinkmann fast elf Stunden auf, die 29 Spulen haben eine Gesamtlaufzeit von 656:52 Minuten. Dass Brinkmann die Bänder als Materialquelle benutzte, erschließt sich schon aus den Notizen. Einzelne Aufnahmen bewertete er in Bezug auf eine mögliche Verwendung mit kurzen Bemerkungen wie sehr gut!!! oder Gut! usw.
Die Notizen liefern Anhaltspunkte für Formen (Monolog, Ganz heftiges Sprechen, Stille, Reflexion, Interview, Erinnerung, Schaben und Pusten ins Mikro, Einzelne Sätze aus Abblendungen), Aufnahmesituationen (Straße/Abend, nachts Uhrzeit), Themen und Motive (Der Mythos der Traurigkeit, Statistik Buchveröffentlichung) sowie Titel bzw. titelähnliche Formulierungen (Ich erinnere mich gern an die Tomatensuppe zu der Musik, Wieder ein Sonntag in Deutschland der absolut alptraumhaft ist).
Die Bänder im Nachlass dokumentieren Brinkmanns experimentelle Arbeit mit Stimme, Mikrofon und Bandmaschine. Es ist die Arbeit im Originalton-Raum, dem Raum des Authentischen, in dem die Äußerungen und Aktionen des Autors bzw. des Aufnehmenden auf die akustischen Bedingungen der Umwelt treffen.
Brinkmann operierte mit allen denkbaren Formen der Tonbandaufnahme bzw. -arbeit und produzierte eine Vielfalt von Textsorten: Monologisches Sprechen und Flüstern in der Wohnung und im Freien; Aufnahmen von Geräuschen und Geräuschabfolgen; Lesung von Postkarten, Gedichten, Notizen; Straßenatmosphäre mit Stimmen von Passanten; Partymitschnitte; spontane und reflektierende Musik-Kommentierung; Befragungen von Maleen und Robert Brinkmann; aktionistische Interviews mit Unbekannten, Kneipengästen etc.; lautpoetische Improvisationen; Telefon-Aktionen; Band-Montagen mit zwei Geräten usw. Wie manche Aufnahmen entstanden, erscheint technisch und methodisch nicht einwandfrei rekonstruierbar.
Beim Hören der 29 Bänder und bei den Überlegungen, wie diese Aufnahmen auf angemessene Weise zu edieren wären, ergaben sich die gleichen Fragestellungen wie bei der Herausgabe von Bild-Text-Collagen, die Brinkmann als Materialbände bzw. Materialhefte hinterließ: so wie sich für das 1972/73 entstandene Manuskript Schnitte (erschienen 1988) als einzige Form die Faksimile-Veröffentlichung anbot, für die sich Maleen Brinkmann und der Rowohlt Verlag dann auch entschieden, schien uns bei den nachgelassenen Tonbändern nur eine Audio-Edition angemessen, die Brinkmanns Aufnahmen unbearbeitet als 1:1-Kopie vorstellen.
Nicht in das Material eingreifen als editorisches Prinzip: die Bänder bzw. Aufnahmen als readytapes so zu belassen, wie sie vorgefunden wurden das bedeutet die teilweise Gleichsetzung von Material und Werk. (Der Begriff Material kommt übrigens in Brinkmanns Notizen zu den Bändern nicht vor.) Doch nur über diese scheinbar einfache und radikale Lösung lassen sich Brinkmanns Aufnahmemethoden und Arbeitsweisen erschließen und erkennen. Denn die meisten takes, die auf diesen Bändern zu hören sind, entstanden spontan, sind also situative Aufnahmen, z.B. improvisierte, beim Gehen aufgenommene Monologe oder aktionistisch geführte Interviews.
Jede andere Form der Edition hätte Fragen beantworten müssen, die nur offenbleiben können. Es gibt beispielsweise Sequenzen (track: Jetzt fällt draußen gleichmäßig ) mit beschleunigtem Abspieleffekt wie das auf einem Zettel so bezeichnete Mickey Mouse Lachen . Es ist möglich, dass diese Sequenz mit der Intention Mickey-Mouse-Sound zu imitieren, produziert wurde. Es ist aber auch ebenso gut möglich, dass es sich nicht um eine Absicht, sondern um ein zufälliges Resultat handelte, weil die Batterien des Geräts schwach waren wie übrigens auch bei einigen anderen Aufnahmen.
Dass jede Bearbeitung, jede Korrektur, jeder Schnitt ein falscher Ansatz im Umgang mit den nachgelassenen Aufnahmen wäre, kann z.B. auch eine Sequenz (track: Immer mit dem Scheißgeld) verdeutlichen, in der Brinkmann eine Formulierung variiert, die folgendermaßen transkribiert werden könnte: Das Abbild des Schornsteins das Abbild des Schornsteins in ach Quatsch das Abbild das Appild das Abbild das Abbild des Schornsteins das Abbild des Schornsteins Schornschtein Schornstein Schorn Stein jetzt hab ich s das Abbild des Schornsteins in einem Traum ist genauso blöde und deprimierend wie tatsächlich der Schornstein am Tag . Korrigiert Brinkmann einen Versprecher? Ist es überhaupt ein Versprecher? Erforscht er einen Begriff durch wiederholte Artikulation? Wie auch immer: jeder Eingriff wäre destruktiv und würde voreilig Interpretationen festschreiben.
Bei einigen Bändern, beispielsweise den Erinnerungen an Rom (track: Was mich in Rom angewidert hat ), bricht die Aufnahme vor dem Ende, mitten in einem Satz ab das Fragmentarische als Grund, auf die Veröffentlichung zu verzichten? Für die Edition stellt sich im Gegenteil die Frage: Wie mit an- und abgeschnittenen Aufnahmen anders verfahren als sie in ihrer An- und Abgeschnittenheit zu veröffentlichen?
Keine Schnitte. Keine Blenden. Kein Nachpegeln. Kein Entzerren. Und vor allem: keine editorische Form der Kontrolle (Brinkmann). Wäre es dann nicht konsequent, den kompletten Audio-Nachlass und nicht nur eine Auswahl zu veröffentlichen? Tatsächlich war es zunächst unsere Absicht, den Nachlass vollständig zu präsentieren, zumal Maleen Brinkmann dazu generell ihr Einverständnis gegeben hatte. Dagegen sprechen teilweise juristische, teilweise inhaltliche Gründe.
Weggelassen werden mussten z.B. Aufnahmen, die bei Parties entstanden, und die aus musikrechtlichen Gründen nicht veröffentlicht werden können.
Bei anderen Aufnahmen gab es juristische Gründe, die den Schutz der Persönlichkeit tangieren. Aber auch inhaltliche Erwägungen sprachen für eine Auswahl: beim intensiven und mehrmaligen Hören der Bänder erwies es sich als sinnvoll, stark ähnliche Sequenzen mit immer wiederkehrenden Formulierungen etc. nicht als Varianten nebeneinander zu stellen oder aufeinander folgen zu lassen, sondern auszuwählen

Autorentext
Katarina Agathos, geboren 1971 in München. Seit 1998 Lektorin, Autorin, Moderatorin, seit 2007 Dramaturgin, seit 2010 Chefdramaturgin in der Redaktion Hörspiel und Medienkunst im Bayerischen Rundfunk. Rolf D. Brinkmann, geb. 16.04.1940 in Vechta, begann Brinkmann 1959 eine Buchhandelslehre in Essen. Seit 1962 in Köln; Pädagogikstudium., dann freier Schriftsteller. Aufenthalte in Rom (Villa Massimo), London, Gastdozent in Austin/Texas. Brinkmann flüchtete sich in die Rolle des provozierenden Rebellen, für den das Leben 'etwas unvorstellbar Gemeines, Viehisches' war: einerseits Auflehnung gegen die biologischen Gegebenheiten des Daseins und Abscheu vor dem Leben, andererseits Faszination und Zustimmung. Sein Credo 'Ich bin für den einzelnen.' Brinkmann machte die amerikanische Pop-Lyrik in Deutschland bekannt und wurde selbst der führende Pop- und Underground-Lyriker Deutschlands in den 60er Jahren. Brinkmann wurde 1975 mit dem Petrarca-Preis ausgezeichnet. Er starb am 23. 4.1975 in London.


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