Winter im Sommer Frühling im Herbst

Winter im Sommer  Frühling im Herbst

Einband:
Fester Einband
EAN:
9783886809356
Untertitel:
Erinnerungen
Genre:
Regional- und Ländergeschichte
Autor:
Joachim Gauck
Herausgeber:
Siedler
Auflage:
18. Auflage
Anzahl Seiten:
352
Erscheinungsdatum:
12.10.2009
ISBN:
978-3-88680-935-6

Der politische und sehr persönliche Rückblick eines friedlichen Revolutionärs

Eine Schlüsselfigur der jüngsten deutschen Geschichte erinnert sich: Joachim Gauck, engagierter Systemgegner in der friedlichen Revolution der DDR und herausragender Protagonist im Prozess der Wiedervereinigung als erster Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Joachim Gauck verlebte seine Kindheit in einem Dorf an der Ostseeküste. Später studierte er Theologie in Rostock und fand seinen Weg in die Kirche in Mecklenburg. Distanz zum DDR-System prägte seine Tätigkeit von Anfang an. Wie selbstverständlich wurde er Teil einer kritischen Bewegung und schließlich zu einer Symbolfigur im Umbruch von 1989. Nach dem Mauerfall übernahm Gauck politische Verantwortung, er wurde Abgeordneter im ersten freien Parlament der DDR und erster Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Der Kampf gegen das Vergessen und Verdrängen blieb als Redner und Kommentator sein großes Thema, auch als er nach zehn Jahren aus dem Amt ausschied. Zu seinem 70. Geburtstag hat Joachim Gauck seine Erinnerungen aufgeschrieben. Ihm ist ein gleichermaßen politisches wie emotional berührendes Buch gelungen, in dem er in klaren Bildern die traumatisierende Erfahrung der Unfreiheit und das beglückende Erlebnis der Freiheit nachzeichnet und den schwierigen Übergang von erzwungener Ohnmacht zu einem selbstbestimmten Leben beschreibt.

»Gauck erzählt verständlich und liebt die Literatur.«

Autorentext
Joachim Gauck, geboren 1940 in Rostock, arbeitete dort bis 1989 als Pastor. Er war Mitinitiator des kirchlichen und öffentlichen Widerstandes gegen die SED-Diktatur, politisch aktiv als Sprecher des Neuen Forums in seiner Heimatstadt und sodann als Abgeordneter der ersten freien Volkskammer. Von 1990 bis 2000 war er Bundesbeauftragter für die Stasiunterlagen, von 2012 bis 2017 elfter Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Er erhielt zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, u.a. den Hannah-Arendt-Preis, den Geschwister-Scholl-Preis, den Europäischen Menschenrechtspreis und den Ludwig-Börne-Preis. Seine Autobiographie »Winter im Sommer - Frühling im Herbst« erschien zuerst 2009 im Siedler Verlag. Zuletzt veröffentlichte er gemeinsam mit Helga Hirsch den Bestseller »Erschütterungen. Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht« (Siedler, 2023).

Leseprobe
"Wo ich her bin ..."

Wenn ich den Sommer besuchen will, habe ich es nicht weit. Auf dem Fischland, stlich von Rostock an der mecklenburgischen Kste, khlt er seine Hitze zwischen Ostsee und Bodden. Dort, wo das Land zwischen den beiden Wassern auf gerade einmal fnfhundert Meter zusammenschrumpft, liegt das Ostseedorf Wustrow.
Von hier stammen die ersten Erinnerungsbilder, die meine Seele aufbewahrt, denn hier verbrachte ich die ersten fnf Jahre meines Lebens: das Gesicht der Mutter ber mir, das Haus, der Baum, der Himmel - hell. Das gro Wasser, die Groutter, der Himmel - dunkel. Die kleine Schwester, Kindertrn, Kinderglck. Alles war zum ersten Mal.
Aber immer, wenn ich mich erinnere, gibt es ein erstes Bild. Ich bin zwlf Jahre, besuche Tante Marianne, eine Freundin meiner Mutter. Sie wohnt mit ihren beiden Kindern in einem uralten Fachwerkhaus am Bodden. Im vorderen Bereich der dunklen Diele mit dem Lehmfuoden sind die Ste, hinten liegen die Kche und die Zimmer. In der Diele streichen Katzen herum, Schwalben fliegen ein und aus, unter dem Geb haben sie ihre Nester gebaut.
Das Haus gehrt Opa Konow, Tante Mariannes Vater, einem Mecklenburger Urgestein. Sein kleines Holzboot, eine Polt, liegt fnfzig Schritte entfernt im "Hafen", einer kleinen Ausbuchtung im Schilfgrtel am Rande des Grundstcks. In diesem Boot lerne ich rudern und - da man es schnell in ein Segelboot verwandeln kann - auch segeln. Man holt damit Heu von einer Boddenwiese oder von der gegenberliegenden Kreisstadt das Bindegarn, das fr die Maschine gebraucht wird. Opa spricht natrlich Plattdeutsch, mit Einheimischen und Fremden gleicherman, gelegentlich auch mit dem Wind, wenn der es "tau un tau dull" treibt mit dem kleinen Holzboot - nicht, dass man noch beidrehen und reffen muss!
Wenn sein Enkel Burckard und ich "anstellig" sind, kriegen wir ein gutes Wort und spr in der Bauernkche Leckmilch, einen fast krnigen Quark. Wahrscheinlich buttert Tante Marianne gleich. Ich entwickle einen regelrechten Heiunger auf die frische, mit winzigen Wasserteilchen behaftete sattgelbe Butter aus dem Fass, die Tante Marianne am Abend verschwenderisch auf ein Stck Schwarzbrot schmiert. Wir sind immer hungrig, denn wir sind immer draun, bei Wind und Wetter, auf dem Hof, auf den Wiesen und auf dem Wasser.
An diesem Tag zieht ein Gewitter auf, was nicht allzu oft geschieht, denn meist, so die Alten, zgen die Gewitter am Fischland vorbei, wegen der Lage zwischen den Wassern. Aber wenn es kommt, dann mtig. Mein Freund und ich rennen in die Laube gegenber der Kche, wir erschauern, wenn die Blitze den Himmel zerrein, und hren dem Regen zu, der laut auf das Laubendach trommelt und leise in den weichen Lagen des Rohrdachs gegenber versickert.
Es ist so dunkel geworden, dass in Tante Mariannes Kche jetzt Licht brennt. Ich sehe sie dort hantieren, die Oberseite der Kchentr steht offen. Gern wrde ich ihre Augen sehen - mir war immer, als wrden ihre Augen ja sagen zum Leben. Sie haben das sicher immer und berall getan, aber in diesem Sommer bin ich es, der in den Blick dieser Augen gekommen ist. Ich spre: Ich bin einer, der dazugehrt. Tante Marianne hat mich geborgen. Jetzt blickt sie auf, sieht zu uns hinber in die Laube, sie lelt und winkt, wahrscheinlich gibt es gleich Abendbrot.
Morgen wrde das Gewitterdunkel weitergezogen sein, Tante Marianne wrde uns mitnehmen in die Wustrower Kirche. Jeden Mittwoch ist hier Sommerabendfeier, ein Abend bestimmt von der Musik durchreisender Knstler, vom Klang der Orgel und immer demselben Lied zum Schluss. Ich werde es schnell auswendig kennen:
Der Tag nimmt ab. Ach schnste Zier,
Herr Jesu Christ, bleib du bei mir,
es will nun Abend werden.
Lass doch dein Licht
auslschen nicht
bei uns allhier auf Erden.

Wend wir mit unseren Fahrrrn am Bodden entlang zurckfahren unter unser Dach, summe ich die Melodie vor mich hin. Heute schlafen Burckard und ich im frheren Kerstall neben der alten Scheune. Es gibt kein Licht und keine Betten, wir liegen auf Stroh bei Men und Fledermen, wir sind mutige gro Jungs. Die Tr zum Hof steht offen, der Himmel ist klar, wenn ich den Kopf wende, sehe ich die Sterne. "Der Tag nimmt ab ... lass doch dein Licht auslschen nicht ..." - da bin ich eingeschlafen.
Heimat, so hrte ich den Rostocker Schriftsteller Walter Kempowski gut dreig Jahre spr im Westrundfunk sagen, Heimat sei fr ihn der "Ort frher Leiden". Ich weinoch, wie ich mich dagegen auflehnte. Fr mich war Heimat frhes Glck. Erst zwanzig Jahre spr sollte ich begreifen, dass mein Glck im Sommer 1952 eng mit dem Unglck ein Jahr zuvor verbunden war. Tante Marianne hatte mich aufgenommen, nachdem mein Vater abgeholt worden war und spurlos verschwand. Wegen des dunklen Sommers ein Jahr zuvor hat der Sommer bei Tante Marianne alle frheren Bilder berstrahlt.
Als meine Familie nach Rostock zog, blieb Wustrow fr mich ein Zufluchtsort, ein trstlicher Bezugspunkt ein ganzes Leben lang: Als ich jung war und jetzt, da ich in die Jahre gekommen bin; als ich noch allein lebte und als ich verheiratet war; als ich ein Kind war und als ich Kinder hatte. Noch heute umft mich das Gefhl einer ganz besonderen We und innere Freude, wenn ich, von Rostock kommend, auf das Fischland abbiege, parallel zur See nach Nordosten fahre, wenn dann in der Ferne der Kirchturm von Wustrow auftaucht und ich rechter Hand hinter Wiesen und Schilf den Bodden wei Auch wenn ich nur zu Besuch komme, fhle ich: Hier bin ich zu Hause.
Dabei waren wir doch Zugezogene, ansig erst se…


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