Der verschwundene Journalist

Der verschwundene Journalist

Format:
E-Book (EPUB)
EAN:
9783827072931
Untertitel:
Eine deutsche Geschichte
Genre:
Zeitgeschichte (1945 bis 1989)
Autor:
Eva Züchner
Herausgeber:
Berlin Verlag
Anzahl Seiten:
288
Erscheinungsdatum:
11.09.2010
ISBN:
978-3-8270-7293-1

Aus dem sächsischen Meißen kommend, besucht Gerhart Weise, Jahrgang 1913,die Reichspresseschule in Berlin. Er arbeitet in verschiedenen Zeitungsredaktionen und steigt bis in Goebbels' Propagandaministerium auf, wo er, obwohl kein Parteigenosse, die wohlwollende Aufmerksamkeit des Ministers findet. Der Film- und Varieté-Spezialist wird zum Kriegsberichterstatter, ohne jemals an der Front gewesen zu sein, er wird zum Erfinder von Falschmeldungen für das feindliche Ausland, zum Film-Zensor,schließlich zum Koautor des letzten NS-Propagandafilms 'Das Leben geht weiter'. Eva Züchner zeichnet das Bild eines jugendlich von der NS-Bewegung Begeisterten, der allmählich zum zynischen Opportunisten wird und in schrecklicher Konsequenz seinen Freund, den Zeichner Erich Ohser, alias e.o. plauen, verrät und dessen Tod kurz vor Kriegsende mitverschuldet. Im September 1945 wird Gerhart Weise von der sowjetischen Geheimpolizei verhaftet und verschwindet spurlos. So ist das Ergebnis der Nachforschungen über den Vater, den romantischen Liebhaber, den sprachgewandten Journalisten, den ehrgeizigen Schreibtischtäter, verstörend - ein verklärtes Vaterbild zerfällt in paradoxe Fragmente, die nicht zusammenpassen und doch zusammen gehören. Anhand von gründlichen Archivrecherchen und aus großer kritischer Distanz liefert Eva Züchner nicht nur das eindringliche Porträt ihres Vaters, eines Journalisten, der zum Handlanger der Mächtigen wurde, sondern auch eine bisher unbekannte Innenansicht der Mediengeschichte im Nationalsozialismus.

Eva Züchner studierte in Berlin Vergleichende Literaturwissenschaft und Neuere Geschichte. Sie arbeitete als Ausstellungskuratorin und Archivleiterin am Landesmuseum Berlinische Galerie.

Autorentext
Eva Züchner studierte in Berlin Vergleichende Literaturwissenschaft und Neuere Geschichte. Sie arbeitete als Ausstellungskuratorin und Archivleiterin am Landesmuseum Berlinische Galerie.

Leseprobe
START IN MEISSEN
Rebell und Nazischüler
Als Gerhart Weise am 15. Juni 1913, einem Sonntag, in Dresden geboren und drei Monate später in der Dresdner Apostelkirche evangelisch-lutherisch getauft wird, können seine Eltern nicht ahnen, dass ihre bürgerliche Welt bald aus den Fugen geraten wird. Seit einem Jahr sind sie verheiratet: Bruno Weise, Lehrer von Beruf, Jahrgang 1883, und Margarethe Hoffmann, Jahrgang 1891, Tochter eines Schuldirektors. Dass sie ihren Sohn auf den Namen Gerhart mit »t« taufen lassen, hat anscheinend keine familiären Gründe; jedenfalls taucht dieser Vorname im »Ahnen-Paß. Amtlich beglaubigte Urkundensammlung über die Abstammung« des späteren Journalisten nicht auf. Mir gefällt der Gedanke, dass die Namensgebung ein Zeichen der Verehrung für Gerhart Hauptmann gewesen sein könnte, der 1912 für seine sozialrevolutionären Dramen den Nobelpreis bekommen hat. Gerhart hat seinen Vater - 1914 eingezogen, 1917 »im Felde vermißt«, 1918 für tot erklärt - ebenso wenig kennengelernt wie ich den meinen. Gleich nach Kriegsende zieht Margarethe, die achtundzwanzigjährige Witwe, mit ihrem kleinen Sohn in das nahegelegene Meißen; sie bekommt eine Anstellung als Bezirkspflegerin, er wird im Herbst 1919 eingeschult. Gerhart ist natürlich zu jung, um sich unter Krieg, Tod und Versailler Vertrag etwas Konkretes vorstellen zu können, aber alt genug, um sich den unaufhörlichen Hunger, die ungeheizten Zimmer, die häufige Abwesenheit der berufstätigen Mutter als eine Zeit der äußeren und inneren Kälte einzuprägen. 1924 wechselt er von der Meißener Volksschule auf das Realgymnasium, wo er jedoch nur drei Schuljahre bleibt. Seine Mutter, so scheint es, will aus ihrem Sohn »etwas Besseres« machen, denn es gelingt ihr, ihn 1927 in der traditionsreichen Fürstenschule St. Afra unterzubringen, die zwei Jahre später ihr vierhundertjähriges Jubiläum feiern wird. Erstaunlich, dass Margarethe es geschafft hat, ihrem Gerhart eine, wie ich annehme, Freistelle in diesem elitären humanistischen Internat zu erkämpfen, in dem die Söhne adliger und großbürgerlicher Familien erzogen werden. Vielleicht hat ihr der Status einer Kriegerwitwe, ihre Anstellung bei der Stadt Meißen und die Tatsache, dass sie im Aufnahmeantrag ihren Mann, den Lehrer, zum »Schuldirektor« befördert hat, dabei geholfen. Gerhart besteht die strenge Aufnahmeprüfung, bleibt aber nur bis 1929, um anschließend wieder aufs Realgymnasium zu wechseln. Warum? Dazu konsultiere ich die Festschrift Die Fürstenund Landesschule St. Afra aus demselben Jahr. Wegen schlechter Zensuren? Vielleicht: »Uns ist es besonders schmerzlich, wenn Afraner, die für unsere Gemeinschaft in Gesinnung und Haltung besonders geeignet sind, wegen mangelhafter Leistungen uns verlassen müssen.« Oder fehlt ihm damals schon die »nötige charakterliche Härte«? Möglich: »Nicht für jeden ist St. Afra der Boden, wo er wachsen und sich entfalten kann. Der Knabe und Jüngling muß hier auf manches verzichten, was ihm auf anderen Schulen gegönnt ist. Wer sich nicht einzufügen versteht, dem ist Verpflanzung in ein anderes Land anzuraten.« Oder weil er »dem afranischen Geiste« schadet, indem er mit nationalsozialistischen Parolen um sich wirft? Eher nicht: »Ich bin überzeugt, daß ein Junge mit undeutscher Gesinnung sich in unserem Alumnate nicht halten könnte.« Die Schülerbücherei zählt 1929 einschlägig Ideologisches zu ihren Neuerwerbungen. Neben Hans Grimms Roman Volk ohne Raum werden im Boten von St. Afra auch Autoren wie Houston Stewart Chamberlain, Hanns Johst und Will Vesper genannt. Jahre später wird der ehemalige Afraner in einem Zeitungsartikel den wahren Grund für seinen Rausschmiss aufdecken. Recht amüsant und biographisch wohl einigermaßen stimmig erzählt er dort von seiner Flucht aus dem Internat, die sich sogar auf den 3. oder 4. Oktober 1929 datieren lässt, denn im Leipziger Hauptbahnhof angelangt, kauft er


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