Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Einband:
Fester Einband
EAN:
9783608946802
Untertitel:
Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen
Genre:
Sachbücher angewandte Psychologie
Autor:
Ingrid Müller-Münch
Herausgeber:
Klett-Cotta Literatur
Auflage:
3. Aufl. 2012
Anzahl Seiten:
284
Erscheinungsdatum:
17.02.2012
ISBN:
978-3-608-94680-2

»Dieses Buch war längst überfällig. Eine äußerst spannend zu lesende Aufklärungsarbeit, die bisher weder wissenschaftlich noch publizistisch mit dieser Überzeugungskraft und Detailgenauigkeit geleistet wurde.«
Günter Wallraff

Ein Großteil der deutschen Nachkriegskinder ist ins Leben hineingeprügelt worden. Wie kam es dazu, dass Eltern zu Teppichklopfer oder gar Rohrstock griffen? Was wurde aus diesen Kindern, die lange Jahre ihres Lebens mit dem Gefühl durch die Welt gingen: Die Eltern mögen mich nicht, ich bin ein Nichts!


Erst nachdem bekannt wurde, dass in Heimen und Privatschulen Misshandlungen an der Tagesordnung waren, dass Geistliche Kinder mit Stöcken schlugen - erst seitdem wird offen über die damals an Kindern verübte alltägliche Gewalt geredet.

Fragen nach dem WARUM kommen auf: War es der Zeitgeist, der zu Watsch'n und einer Tracht Prügel verleitete? Hing es damit zusammen, dass die Väter traumatisiert aus dem Krieg zurückkehrten? Geschah dies alles in einer unsäglich brutalen Erziehungstradition? Mit einem Blick auf Gegenwart und Vergangenheit beschreibt dieses Buch, wie sich der Vertrauensbruch der Eltern auf die Biografie der Kinder ausgewirkt hat. Wie die demütigenden Schläge die Gefühle, den Alltag und die Beziehungen einer ganzen Generation bis heute beeinflussen. Und ob die einst geprügelten Kinder als spätere Erwachsene diesen Eltern verziehen oder mit ihnen brachen.

Vorwort
Als das Prügeln von Kindern noch normal war

Autorentext
Ingrid Müller-Münch, Journalistin und Autorin. Sie war Korrespondentin der Nachrichtenagentur »Reuters« und der »Frankfurter Rundschau«, Redakteurin beim »Stern« und arbeitet heute hauptsächlich für den »Westdeutschen Rundfunk«. Sie lebt in Köln.

Leseprobe
1. Kapitel

KOMM DU MIR BLOSS NACH HAUSE


Bauklötze aus Brikett

Sonja war fünf Jahre alt und spielte mit einer Freundin in der Garage ihrer Eltern. Zu der Zeit wurde noch hauptsächlich mit Kohle geheizt. Und so waren dort Briketts für den Winter gestapelt, zum Entzücken der beiden Mädchen. Die packten sie sich, diese schwarzen, rechteckigen Klötze, ohne Rücksicht auf ihre sauberen Anziehsachen, stapelten sie gekonnt und bauten aus ihnen eine Sitzgarnitur. Mit Tischen und Stühlen, mit allem, was dazu gehört. Stolz betrachteten beide anschließend ihr Werk, kletterten daran rauf und runter, ohne sich groß darum zu scheren, dass sie sich dabei immer mehr mit den Briketts einstaubten und dreckig machten.

»Das war Anfang der 50er Jahre. Meine Mutter hatte keine Waschmaschine und musste für uns drei Kinder zu Hause mit der Hand waschen«, erinnert sich Sonja. Dementsprechend aufgebracht war die Mutter, als sie die verschmierte Kleidung der Tochter sah und schlug zu. »Das war das erste Mal, dass sie den Rohrstock rausgeholt hat.« Sonja zögert. »Vielleicht war es ja auch vorher schon.« Nur an dieses Mal erinnert sich Sonja noch ganz genau.

Für den Berliner Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz eine in der damaligen Zeit normale und auch gesellschaftlich anerkannte Reaktion. »Es war durchaus klar, dass man das hinnehmen musste, wenn es passierte. Körperliche Strafen, die b e rühmte Ohrfeige oder auch mal das an den Ohren ziehen solche Sachen waren üblich in den 50er und 60er Jahren und dementsprechend allgemein akzeptiert. In den Medien, überhaupt in der Öffentlichkeit, ja auch in den Gesprächen der Erwachsenen untereinander galten Schläge als erzieherisch wirksames Mittel.«

Sonja bekam das zu spüren. »Über meine Eltern wurde gelegentlich gesagt, sie seien sehr streng. Ich nde, das ist untertrieben, sie waren brutal. Sie hatten ein brutales Erziehungs-Straf system. Das war gestaffelt, je nach Vergehen. Und kleinere Vergehen konnten sich addieren. Bis dann der Rohrstock kam.« Sonja hatte häug den Eindruck, ihre Eltern hätten sich »regelrecht entlastet«, wenn sie die Tochter oder die Söhne verhauten. Danach schien es Vater und Mutter richtig gut zu gehen. Sie wirkten, als hätten sie Luft abgelassen. Dabei behaupteten die Eltern stets, die Kinder müssten nach einer solchen Tracht Prügel erleichtert sein, sich geradezu befreit fühlen, weil sie ihre Schandtat endlich gesühnt hätten. »Tatsache war, die Eltern fühlten sich besser, weil sie ihren Frust rausgeprügelt hatten. Auf uns.« Auf Sonja und ihre zwei Brüder.

»Meine Eltern waren Proteure des Nazi-Regimes gewesen«. Diese Bemerkung macht Sonja ziemlich zu Anfang unseres Gespräches. Es ist ihr wichtig, einen Zusammenhang zwischen dem Zerplatzen der Träume ihrer Eltern von einem »Großdeutschen Reich«, verbunden mit einem damit einhergehenden von ihnen offenbar erwarteten Wohlstand und den so schmerzhaften späteren Sanktionsritualen in ihrer Familie herzustellen. Jedenfalls wirkten diese Eltern auf die kleine Sonja enttäuscht, gekränkt, ja geradezu wütend. Und sie ließen ihre Wut an den Kindern aus. So kam es Sonja jedenfalls vor.

Wenn ihre Brüder zum Beispiel etwas angestellt hatten, wenn sie was nicht selten passierte mit schlechten Zeugnissen nach Hause kamen, dann mussten sie sich der Reihe nach im Wohnzimmer aufstellen. In diesem großen, repräsentativen Wohnzimmer, in dem Gäste mit Salzstangen und Moselwein bewirtet wurden. Und dann schlug der Vater zu, während die Mutter dabei saß, »mit einem kleinen Cognac, einer Zigarette, und sich das ansah.«

Das Trotzköpfchen soll sich beruhigen

Sonja kommt aus einer bürgerlich protestantischen Familie. Ihr Vater war das, was man heute einen Manager nennen würde. Zunächst war ihre Familie »nachkriegsverarmt«, so wie die meisten Deutschen der damaligen Zeit. Bald schon machte sich allerdings das beginnende Wirtschaftswunder bemerkbar. Anfang der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts da war die 1947 geborene Sonja noch nicht eingeschult wurde ein erstes Auto angeschafft. Dem folgte ein eigenes Haus. Es ging mit strammem Kurs aufwärts. Bald waren »wir eine richtig gut situierte Familie«. Doch der Wohlstand änderte nichts daran, dass zu Hause eine eisige, kinderfeindliche Atmosphäre herrschte.

Inzwischen ist Sonja über 60 Jahre alt, verheiratet, kinderlos, liebt ihren kreativen Beruf als Grakerin. Sie wirkt bei unseren Gesprächen in sich ruhend, zufrieden mit ihrem jetzigen Leben, aber auch wie jemand, der verwundet wurde, dadurch leicht verletzbar geworden ist. Das Thema Kindheit, Schläge, Eltern ist ihr spürbar unangenehm. Doch Sonja ist kein Weichei, das wurde ihr von den Eltern ausgeprügelt. Sie ist es gewohnt, sich Herausforderungen zu stellen, tat das schon immer. Wie diesmal dem Interview mit mir, das sie belastet. Ich merke es ihr an. Sie weicht aber dennoch nicht aus.

So kann sie mir noch nach all den Jahrzehnten genau beschreiben, wie so ein Rohrstock eigentlich aussah: »Er ist mehr als einen halben Meter lang, dünn, aus Rohr oder Bambus.« Gespürt hat sie ihn während ihrer ganzen Kindheit. Wieder und wieder. Die Eltern teilten sich die Schläge auf: »Die Mutter schlug mich, der Vater meine Brüder.« Einmal im Monat »war das bei mir dran.« Vielleicht mehr oder weniger häug, überlegt sie, aber seltener sicher nicht. »So dass ich ständig mit dieser Bedrohung lebte.«

Das Ritual der Misshandlung spielte sich immer gleich ab. Die Mutter sagte, wenn etwas schief gegangen war: »Du weißt ja, was jetzt passiert. Hol schon mal den Rohrstock.« Der lag stets griffbereit so weit oben auf einem Schrank im Esszimmer, dass die kleine Sonja ihn gerade mal zu fassen bekam. Sie reckte sich, hol te ihn. Dann musste sie vorgehen, die Treppe runter in die Waschküche. »Dort wurde ich verprügelt. Röckchen hoch. Also nicht gerade auf den nackten Po. Aber auf die Unterhose.«

Sonja erinnert sich gut an die Brutalität, die bei ihr zu Hause herrschte. Und die sich von den Elter…


billigbuch.ch sucht jetzt für Sie die besten Angebote ...

Loading...

Die aktuellen Verkaufspreise von 6 Onlineshops werden in Realtime abgefragt.

Sie können das gewünschte Produkt anschliessend direkt beim Anbieter Ihrer Wahl bestellen.


Feedback