Abwesende Väter und Kriegskindheit

Abwesende Väter und Kriegskindheit

Einband:
Fester Einband
EAN:
9783608946338
Untertitel:
Alte Verletzungen bewältigen
Genre:
Angewandte Psychologie
Autor:
Hartmut Radebold
Herausgeber:
Klett-Cotta Fachbuch
Auflage:
1. Aufl. 2010
Anzahl Seiten:
261
Erscheinungsdatum:
09.04.2010
ISBN:
978-3-608-94633-8

»Kriegskinder« leiden noch heute unter der fehlenden oder spannungsvollen Beziehung zu ihren Vätern - diese waren umgekommen oder vermisst oder nach ihrer Rückkehr krank, apathisch und kaum mehr zugänglich für ihre Söhne und Väter. Radebold verdeutlicht, wie hilfreich sich eine psychotherapeutische Behandlung noch im späteren Erwachsenenalter auswirken kann.

Die Schreckenserlebnisse des Zweiten Weltkrieges sowie die Nachkriegszeit prägten die Kindheit von vielen tausend Menschen. Äußerlich meist unversehrt wurden sie mit den tief greifenden familiären Veränderungen konfrontiert, die sich vor allem durch die physische oder psychische Abwesenheit der Väter einstellten. Welche Folgen hatte dies für den Entwicklungsverlauf der Kinder und bis zum heutigen Tag?

Auf Basis der Auswertungen von zehn langfristigen Psychoanalysen von heute 65- bis 75-Jährigen vermittelt Hartmut Radebold ein Verständnis für das Ausmaß und die Auswirkungen dieser frühen Belastungen. Vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen seiner Kriegskindheit gelingt es dem Autor, seinen Patienten zu helfen, indem er sich ihrem Leid empathisch öffnete und ihre Gefühle spiegelte.


»Das Buch ist sehr lesenswert - ein gelungener Mix zwischen Lehr- und Lebenswissen, und zudem eine Anregung zur stärkeren Hinterfragung der eigenen Wurzeln - und die der Eltern und der Eltern davor.«
Sandy Krammer, Trauma&Gewalt, November 2010



Vorwort
Sogar während des Alterns können frühe Verlusterfahrungen und Verletzungen noch bewältigt werden.

Autorentext
Hartmut Radebold, geboren 1935, Univ. Prof. em., Dr. med., war Psychiater und Psychoanalytiker und Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie der Universität Kassel. Er gilt als »Nestor der deutschsprachigen Psychotherapie Älterer« (PSYCHE) und befasste sich mit der Entwicklung und dem Befinden der Kriegskinder. 2009 erhielt er für seine Forschungen das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Im September 2021 ist er in Kassel verstorben.

Leseprobe

Einführung
Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen (2,5 Mill.) als Halbwaisen auf Dauer ohne Vater auf, weiteren Millionen fehlte der Vater aufgrund seines Kriegsdienstes und der Kriegsgefangenschaft für mehrere Jahre. Beide Gruppen erlebten und erlitten zusätzlich bedrohliche, bedrückende bis nachhaltig traumatisierende Erfahrungen als Kriegskinder. Im Jahr 2000 beschrieb ich erstmals im deutschsprachigen Raum in diesem Buch systematisch anhand von zehn Psychoanalysen die lebenslangen Folgen auf die Entwicklung und Identitätsbildung Betroffener einschließlich bestehender Behandlungsmöglichkeiten.
Die jetzige 4. Au fl age habe ich weitgehend verändert und unseren aktuellen Wissensstand verdeutlicht. Die Berichte über diese Psychoanalysen von sechs Männern und vier Frauen, geboren zwischen 1935 und 1947, sind nach wie vor das Kernstück dieses Buches. Sie umfassen ihre Kindheit, ihre Erlebnisse in Kriegs- und direkter Nachkriegszeit, ihre anschließende Weiterentwicklung im jüngeren und mittleren Erwachsenenalter sowie ihren Behandlungsprozess. Die ersten Abschlussgespräche oder -berichte 1999 wurden jetzt durch weitere im Jahre 2009 ergänzt. In diesen letzten zehn Jahren erlebten sie ihr höheres Erwachsenenalter: Wie geht es ihnen jetzt? Inwieweit wirken ihre in der Psychoanalyse gemachten Erfahrungen bis heute?
Dieses Buch habe ich als Behandler, Forscher und Betroffener geschrieben. Mein Alter (von jetzt fast 75 Jahren) ermöglichte mir, über einen bewusst erlebten Zeitraum von 70 Jahren die lebenslangen Folgen dauerhafter Abwesenheit des Vaters zu untersuchen. Mein früherer Umgang - schwankend zwischen Sehnsucht, Verleugnung und Suche - wurde mir erst ab 1988 durch den langen, schmerzlichen Prozess einer Selbstanalyse zugänglich. Danach konnte und kann ich meine weitere Entwicklung re fl ektiert beobachten. Die dargestellten Ergebnisse und Schlussfolgerungen wurden mir erst durch diese besondere zeitgeschichtlich auferlegte Konstellation möglich.
Den Bericht über mein Be fi nden und meine weitere Entwicklung zwischen 1999 und 2009 habe ich daher gleichfalls fortgeführt. Aus Anonymisierungsgründen können viele biogra fi sche Details meiner Patientinnen und Patienten weiterhin nicht erwähnt werden (einige wurden aufgrund ihrer abgedruckten biogra fi schen Daten hier angesprochen - die Region Kassel ist einfach zu klein). Dieser Bericht über mich selbst soll andere Betroffene ermutigen, sich ihrer eigenen Geschichte und den damit verbundenen Reaktionen und Gefühlen zu stellen, sie auszuhalten und vor sich selbst, in ihrer Partnerschaft, ge gen über ihren Kindern und schließlich auch in der Öffentlichkeit zuzulassen. Zu leicht wird es (beim Lesen) sonst möglich, unter Hinweis auf den Patienten-Status der hier beschriebenen (offenbar dar an erkrankten) Männer und Frauen, die eigene damit zusammenhängende Problematik und die lebenslangen Kon fl ikte zu verleugnen oder zumindest zu bagatellisieren.
Diskussionswürdig ist der Begriff Kriegs-Kindheit . Welche Jahrgänge gehören dazu und aufgrund welcher zeitgeschichtlichen Erfahrungen wird die Zugehörigkeit de fi niert? Immer wieder fällt auf, dass durch die Abwesenheit des Vaters, Bombenangriffe/Ausbombung, Flucht und Vertreibung sowie passive und auch aktive Gewalterfahrungen eindeutig Betroffene sich selbst nicht dazurechnen. Für mich gehören die Jahrgänge 1947 bis 1929 dazu. So reicht das Spektrum von Kindern und Jugendlichen (bei Kriegsende höchstens 16-jährig), die den Zweiten Weltkrieg, insbesondere die letzte Kriegsphase, das Kriegsende und die direkte Nachkriegszeit erlebten, bis hin zu den in der direkten Nachkriegszeit Geborenen, die z. B. als Vertriebene noch erkennbar von den Auswirkungen des Krieges betroffen waren.
2000 enthielt das Buch (bis zur 3. Au fl age) eine umfassende, von meiner Frau Hildegard Radebold erarbeitete Analyse damaliger Kinder- und Jugendliteratur sowie Erwachsenenliteratur zu den menschlichen Kriegsfolgen. Sie belegte nachdrücklich das generelle langanhaltende Schweigen dieser Jahrgänge über ihre zeitgeschichtlichen Erfahrungen und ihre mühselige Annäherung. Diese Literaturanalyse - gleichsam im Rückblick eine Legitimation - kann jetzt entfallen.
Mein Buch belegt erneut und unverändert den zentralen damaligen Befund, dass schon die kriegsbedingt langjährige Abwesenheit des Vaters in der Kindheit (auch in der Jugend) und erst recht das völlige Fehlen des Vaters - und dazu noch in Verbindung mit den bekannten weiteren zeitgeschichtlichen Erfahrungen - sehr häu fi g weitreichende Auswirkungen hatte und hat: auf die psychosexuelle und psychosoziale Identitätsbildung, die Beziehungs- und Bindungsfähigkeit sowie auf die Eignung, die Aufgaben eines Vaters wahrzunehmen - insbesondere wenn beschützende Ein fl üsse fehlten. Diese Auswirkungen zeigten sich bereits im jüngeren Erwachsenenalter, führten im mittleren Erwachsenenalter zur psychoanalytischen Behandlung und reichen bis hinein in das höhere Erwachsenenalter - also leider offenbar lebenslang.
Die Abschlussgespräche oder -berichte 1999 und 2009 belegen ebenso, dass es Chancen gab und weiterhin gibt, eine schon seit langem bestehende oder auch eine neue Partnerschaft befriedigender zu gestalten, die Aufgaben eines Vaters und Großvaters zufriedenstellender wahrzunehmen, das Leben zu genießen sowie sich besser um sich selbst zu kümmern. Voraussetzung dafür ist, die eigene spezi fi sche Geschichte als untrennbaren Anteil der eigenen Biogra fi e anzunehmen und sich der damit verbundenen Zwiespältigkeit zu stellen. Diese Zwiespältigkeit umfasst das Wissen über Verhalten und Taten der vor angegangenen Eltern-Generation, aber auch das Wissen um das eigene erfahrene Leid als Kind oder Jugendlicher.
Gleichzeitig wird jetzt eine weitere zentrale Aussage möglich: Unser Verständnis …


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