Rousseau - Mensch oder Bürger

Rousseau - Mensch oder Bürger

Einband:
Fester Einband
EAN:
9783608942453
Untertitel:
Das Dilemma der Moderne
Genre:
Philosophie der Renaissance
Autor:
Robert Spaemann
Herausgeber:
Klett-Cotta Literatur
Auflage:
1. Aufl. 2008
Anzahl Seiten:
156
Erscheinungsdatum:
27.08.2008
ISBN:
978-3-608-94245-3

Aller Streit um den »wahren« Rousseau ist vergeblich. Für jede Verirrung Rousseaus gibt es auch eine Kritik, die sich bei Rousseau selbst findet.

Das spätmoderne Individuum wurde schon von Rousseau unnachsichtig entlarvt. Und dennoch stilisierte sich der »arme Jean-Jacques« wie kein Zweiter vor oder nach ihm als zerrissene Persönlichkeit. Diesen fundamentalen Widersprüchen im Denken Rousseaus und seiner Persönlichkeit geht Robert Spaemann auf den Grund. Rousseau wurde zum Vorläufer des modernen Menschen, der auch das 21. Jahrhundert bestimmen wird.

Vorwort
Rousseau ist der moderne Mensch par excellence

Autorentext
Robert Spaemann, geboren am 5. Mai 1927 in Berlin, studierte Philosophie, Romanistik und Theologie in Münster, München und Fribourg. Von 1962 bis 1992 lehrte er Philosophie an den Universitäten in Stuttgart, Heidelberg und München, wo er 1992 emeritiert wurde. Robert Spaemann hatte zahlreiche Gastprofessuren inne, erhielt mehrere Ehrendoktorwürden und war 2001 der Träger des Karl-Jaspers-Preises der Stadt und der Universität Heidelberg. Robert Spaemann, einer der führenden konservativen Philosophen im deutschsprachigen Raum, starb am 10. Dezember 2018.

Leseprobe
Einleitung: Mensch oder Bürger - Rousseaus Weg von der Polis zur Natur Der Gegenstand dieses kleinen Buches ist beinahe unerschöpflich. Irgend etwas läßt einen immer wieder fasziniert und abgestoßen, belehrt und konsterniert, begeistert, gerührt oder angewidert, zu Rousseau zurückkehren. Was eigentlich? Rousseau ist in unvergleichlichem Sinne eine exemplarische Existenz. Er hat sich selbst so verstanden und stilisiert. Auf den Widerspruch hingewiesen, daß er, der Feind der Künste und Wissenschaften, ein Theaterstück schrieb und veröffentlichte, antwortet er, hierüber ließe sich freilich eine Satire schreiben, aber »eine Satire nicht auf mich, sondern auf mein Zeitalter«. Darauf angesprochen, daß er, der Verfasser eines berühmten Buches über Erziehung, seine fünf Kinder sämtlich im Findelhaus abgab, klagt er die herrschende Klasse an, die ihm das Brot für seine Kinder stiehlt. »Brot für seine Kinder« - das umfaßt für Rousseau: die Kosten der Herstellung einer vollständigen pädagogischen Provinz; das antiautoritäre Programm der Erziehung von fünf " Émiles " wäre sehr aufwendig gewesen. Kann aber Rousseau nicht exemplarisch handeln, dann lehnt er jede Verantwortung ab und stilisiert sich zum exemplarischen Opfer. Rousseau hat die »große Verweigerung« vorgelebt wie kein anderer vor oder nach ihm. Gleichzeitig aber ist er der überzeugendste Beweis für Nietzsches und Schelers These vom Schöpferischwerden des Ressentiments. Die Bewegung der Regression, des Ausweichens, der Flucht ist für ihn stets charakteristisch. Ins katholische Konvertitenheim gerät er, weil er sich als 16 jähriger Lehrling nach Torschluß nicht in die Stadt Genf zurücktraut . Er hat ein Halsband gestohlen und schiebt die Schuld auf das Dienstmädchen, in das er heimlich verliebt ist und das mit Schande entlassen wird. Als dem Direktor der Sängerschule von Annecy , den er auf einer Reise nach Lyon begleitet, ein Unfall zustößt, läßt er ihn liegen, taucht in der Menschenmenge unter und macht sich davon. Haben wir ein Recht, davon zu sprechen? Wir wissen das alles ja nur von ihm selbst. Es sind sozusagen Beichtgeheimnisse. Aber die Beichtväter für seine ?Bekenntnisse? sind wir alle, seine Leser. Rousseau klagt sich nicht vor einem göttlichen Gericht an, er bittet nicht um Vergebung oder dankt für die Einsicht, die ihn diese Bitte tun läßt - wie Augustinus in seinen ? Confessiones ?. Rousseau wählt statt dessen die Rolle des Knechtes im Gleichnis Jesu, der das ihm anvertraute Talent trotzig so abliefert, wie er es bekam, nicht mehr und nicht weniger - »in der ganzen Wahrheit der Natur«. "Die Posaune des Jüngsten Gerichtes mag erschallen, wann immer sie will. Ich werde vor den Höchsten Richter treten, dieses Buch in der Hand (!), und laut werde ich sprechen: Hier ist, was ich geschaffen, was ich gedacht, was ich gewesen. Mit gleichem Freimut habe ich das Gute und das Böse gesagt . . . Ich habe mich gezeigt, wie ich gewesen bin: verächtlich und niedrig, wo ich es war, und ebenso edelmütig und groß, wo ich es war ..." Und dann spricht er sich selbst los, indem er das Wort Jesu »Wer von Euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie« in eine egalitäre Herausforderung umformuliert : »Wer wagt es hervorzutreten und zu sprechen: ?Ich war besser als dieser Mann??« Auch die ?Bekenntnisse? sind eine exemplarische Fluchtbewegung, eine Flucht nach vorn. Bei Rousseau wird das Ressentiment schöpferisch. Zehn Jahre hat er versucht, den Weltmann zu spielen. Er hat nach Art von Voltaires ? Mondain ? in mit- tel mäßigen Versen Reichtum und Luxus als Wohltäter der Menschheit gepriesen, die Seidenspinnereien von Lyon verherrlicht und den Versuchungen der Don Quichotterie widerstanden: "Es wäre nicht gut in der Gesellschaft, wenn zwischen den Rängen größere Gleichheit herrschte. Soll ich einer eitlen Marotte folgen und den großen Deklamator machen, den neuen Don Quichote ?" Man merkt, daß er es gern möchte. Zu dick aufgetragen ist diese Apologie , um zu überzeugen. Und zu dick aufgetragen ist auch seine Selbstempfehlung als Erzieher im Hause des Herrn von Mably , des Bruders des großen Ökonomen: Er will die Kinder »zu geschliffenen Kavalieren und Ehrenmännern erziehen«, ihnen jene weltläufige Tugend vermitteln, »die in der Ersetzung der großen Leidenschaften durch die petits goûts besteht. Große Leidenschaften sind immer Sache einsamer und melancholischer Herzen.« Die ungeheure Erregung, der Nervenzusammenbruch, die Tränen, die ihn zehn Jahre später auf dem Wege nach Vincennes überkommen, als er die Preisfrage der Akademie liest, zeigen, was vorausgegangen sein muß. Auf einen Schlag durchschaut nun Rousseau die Rolle des angepaßten progressistischen Intellektuellen, mit der er sich abgequält hat und die er doch nie mit der Eleganz seiner Pariser Freunde zu spielen wußte. Plötzlich bietet sich die Möglichkeit, in der Absage an die Gesellschaft zu sich selbst zurückzukehren, zu den Plutarch-Idealen seiner Jugend, zu den Bedürfnissen seines Herzens; die Möglichkeit, mit sich identisch zu werden - und dafür von einer gelehrten Einrichtung der Gesellschaft einen Preis zu erhalten. »Hätte ich nur ein Viertel von dem schreiben können«, so schreibt er in dem berühmten Brief an Malesherbes , was ich damals unter jenem Baum gefühlt und gesehen habe, mit welcher Klarheit hätte ich alle Widersprüche des sozialen Systems sichtbar gemacht, mit welcher Kraft alle Mißbräuche unserer Institutionen bloßgestellt, mit welcher Einfachheit hätte ich erwiesen, daß der Mensch von Natur gut ist und daß die Menschen nur durch ihre sozialen Einrichtungen böse werden. Nun folgt der Polis-Traum , die neue Rolle: der Spartiate als Citoyen de Genève . Aber die Schrift, in der er sich mit diesem Titel präsentiert und die er seiner Vaterstadt Genf widmet, der zweite ? Discours ?, bereitet in Wirklichkeit doch schon die Verabschiedung dieses Traumes vor. Endgültig bricht auch die neue Rolle zusammen, als die Genfer Pastoren den vom Erzbischof von Paris gebannten Flüchtling ihrerseits in Acht und Bann tun. Dahinter steckt, wie wir heute wissen, Voltaire, der ihn bei den Pastoren als »Feind des Christentums« denunziert hatte. Der Grund der Perfidie ist klar: Er liegt in Rousseaus Bekenntnis zum Christentum, zur Unvergleichlichkeit Jesu mit Sokrates. Voltaire und die Freunde von der Enzyklopädie haben Rousseau dies nie verziehen. Jedes Mittel war ihnen recht, um den plebejischen Verräter an der großen Sache der Aufklärung zu vernichten. Hatte Rousseau es nicht sogar gewagt, die Freiheit des katholischen Polen gegen den aufgeklärten Imperialismus der russischen Zarin zu verteidigen? Und noch einmal reagiert Rousseau mit einer exemplarischen Fluchtbewegung: von der Polis zur Natur. Theoretisch hat…


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