Die Vergangenheit

Die Vergangenheit

Einband:
Fester Einband
EAN:
9783608937053
Untertitel:
Roman
Genre:
Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Autor:
Alan Pauls
Herausgeber:
Klett-Cotta Literatur
Auflage:
3. Aufl. 2011
Anzahl Seiten:
558
Erscheinungsdatum:
24.08.2009
ISBN:
978-3-608-93705-3

»Die Vergangenheit« ist ein Epos über die Erziehung des Herzens, eine opulente Liebesgeschichte über die Metamorphosen der Leidenschaften, wenn sie ins Dunkel ihrer Nachwelt geraten. Und ein großes Stück Literatur des wichtigsten argentinischen Autors.

Nach zwölf Jahren absoluter Liebe, die die Welt nach ihrem Ebenbild zu formen schien, trennen sich Rímini und Sofía.

Es sind die Achtziger in Buenos Aires, und für den dreißigjährigen Rímini ist alles wieder so funkelnd wie zu Beginn. Er entdeckt das Begehren neu und wirft sich mit einer jüngeren Frau in eine rauschhafte Suche nach der verlorenen Zeit.

Aber seine Liebe zu Sofía ist nicht gänzlich erloschen, sie hat nur ihre Form verändert. Und als Sofía überraschend in sein Leben zurückkehrt, trägt die frühere Liebe das Antlitz des Entsetzens. Ein ums andere Mal erscheint sie ihm als Rachegespenst, um ihn zurückzueobern, zu quälen, vielleicht zu retten. Und so gerät Rímini in ein Inferno aus emotionaler Erpressung, Verrat und Drogen. Am Ende droht ihm, dass er alles verliert. Oder gibt es eine Liebe nach der Liebe?

Vorwort
»Einer der größten lebenden Autoren Südamerikas!« Roberto Bolaño

Autorentext
Alan Pauls, geboren 1959 in Buenos Aires, hat Literatur gelehrt, daneben Drehbücher, Filmkritiken, Essays und sechs Romane geschrieben. Er arbeitet als Kulturkolumnist für eine große Tageszeitung und moderiert eine Fernsehsendung. Sein Werk ist bisher in 14 Sprachen übersetzt worden.

Leseprobe
DIE ERSTE

1
Rímini stand unter der Dusche, als es klingelte. Mit einem kleinen Handtuch um die Hüften - ein anderes konnte er in dem Basar der Parfüms, Cremes, Plastikhauben, Badesalze, Öle, Arzneien und Massageutensilien, in den Vera das Badezimmer verwandelt hatte, auf die Schnelle nicht finden - lief er zur Küche, gefolgt von einem Tross gehorsamer Tropfen. »Post« tönte es zwischen zwei vorbeirauschenden Lastwagen aus der Gegensprechanlage. Rímini bat, man solle ihm den Brief unter der Wohnungstür durchschieben, und plötzlich, als stünde in einem vermeintlich leeren Zimmer mit einem Mal der Schatten eines Eindringlings vor ihm, sah er sich nackt und zitternd im verglasten Flügel einer Tür, die ein Luftzug aufgestoßen hatte. Der klassische Fall von Unannehmlichkeit: trivial, wirkungsvoll und allzu unverblümt. Die Dampfschwaden, die aus dem Bad drangen - er hatte die Dusche laufen lassen, weil er hoffte, so die Unterbrechung abzukürzen - , verursachten ihm leichte Übelkeit. »Sie müssen unterschreiben«, tönte es aus der Gegensprechanlage. Rímini schnaubte, betätigte den Türöffner und sah ungerührt zu, wie die Landschaft seines Glücks in tausend Stücke ging.
Der Morgen zu Hause, Seligkeit des Sonnenstrahls, der unter der Dusche sein Gesicht liebkoste, das Gefühl unverplanter Möglichkeit wie an einem ersten Urlaubstag, das ihn durchströmte, wenn er erwachte und sich allein vorfand und seine ersten Bewegungen, linkisch und jugendlich, die Stille einer ganzen Nacht zerknarzten, die kämpferische, ein wenig naive Lebensfreude, die die langen Liebesnächte mit Vera bei ihm hinterließen - all das brach in sich zusammen. Obwohl vielleicht... Rímini hielt die Muschel des Hörers zu und stand für einige Sekunden unbeweglich und leicht vornübergebeugt gegen die Arbeitsplatte gelehnt, als wollte er vermeiden, gesehen zu werden. Aber es klingelte erneut, und fast lautlos, wie in einem Stummfilm, barsten die letzten Glasscheiben seiner morgendlichen Euphorie. Rímini, der nichts mehr hasste als die Art, wie die Welt manchmal seine privaten Peinlichkeiten nachäffte, vermutete diesmal kein Plagiat. Er spürte Gefahr. Er war diesmal nicht das Opfer von Gespött, sondern Opfer eines Komplotts. Aber er gab nach, meldete sich, und während er auf seine Füße schaute - Riesenfüße, um die winzige Menschenozeane fluteten -, hörte er, was er von Anfang an zu hören befürchtet hatte: Die Tür zur Straße war abgeschlossen.
Als Rímini unten ankam, nachdem er im Sturmlauf die drei endlosen Stockwerke überwunden hatte, die er täglich aufs Neue verfluchte (»Genial: Ich hasse Aufzüge!«, hatte Vera damals bei der Wohnungsbesichtigung gerufen und die dunkle Spirale des Treppenhauses bewundert), schloss er die Haustür auf, schaute nach allen Seiten, sah aber niemanden. Er wurde so wütend, dass er zu platzen glaubte. War das die Möglichkeit? In Zeitlupe fuhr ein alter Kleinbus vorbei, von braun gebrannten Armen wimmelnd, die aus den Seitenfenstern quollen. Lang anhaltendes Hupen ertönte. »Bella!«, rief eine höhnische Stimme, die sich durch das Gewühl der Arme Bahn brach. Rímini schaute wieder auf seine Füße (linke Sandale am rechten, rechte am linken Fuß: typische Morgen-Rochade), das rosa Handtuch, das ihm wie bei einem römischen Gladiator bis zur Mitte des Oberschenkels reichte, die Jacke, die auf seinen Schultern feucht wurde - dennoch fühlte er sich aus irgendeinem Grund nicht gemeint. Gerade wollte er wieder ins Haus gehen, als aus dem Kiosk nebenan ein grinsendes Gesicht hervorschaute und ihn anrief. Es gehörte einem jungen Burschen, hager wie ein Fakir, von jener ausgemergelten, mit prallen Venen überzogenen Sehnigkeit, die die Rockmusik bei Egon Schiele abgekupfert hatte. Aber groß war er nicht, und eine Uniform trug er auch nicht. »Rémini?«, fragte er und wedelte mit einem Brief in der Luft. Rímini wollte ihn korrigieren, entschied sich aber für die Abkürzung. »Wo soll ich unterschreiben?« Der andere hielt ihm den Brief und ein verknittertes Formular hin, in dessen rechteckigen Feldern Unterschriften und Vorgangsnummern wie Kraut und Rüben standen. Rímini wartete: auf einen Kuli, einen Bleistift, irgendwas. Aber der Briefträger beschränkte sich darauf, ihm auf die Fußnägel zu schauen, die in der Sonne glänzten, und mit einem zerkauten Strohhalm am Boden einer fast leeren Getränkedose komisch blubbernde Geräusche zu erzeugen. »Hast du was zu schreiben?«, fragte Rímini. »Leider nein. Blöd, wie?«, antwortete der andere, als würde die bloße Äußerung von Verwunderung ihm für seine Dämlichkeit die Absolution erteilen.
Zehn Minuten später, auf dem Gipfel schlechter Laune (Rímini hatte im Kiosk gefragt, ob man ihm einen Kuli leihen könne, der Besitzer wollte ihm nur einen verkaufen, Rímini - dessen Notgarderobe keine Brieftasche einschloss - gelobte spätere Bezahlung und bat um den Brief, der Briefträger-Fakir behielt ihn gleichsam als Geisel und stellte die Auslieferung unter der Bedingung in Aussicht, dass er ihm ein Weihnachts-Los kaufte, Rímini wandte ein, er habe kein Geld dabei, der Briefträger empfahl mit einem Augenzwinkern in Richtung Kioskbesitzer, er solle den Kredit nutzen, mit dem er gerade den Kuli gekauft habe), ließ sich Rímini auf einen Stuhl sinken und sah sich den Brief zum ersten Mal richtig an. Er spürte eine ungeheure Erleichterung, als wäre der kleine, querformatige Umschlag, jetzt in Großaufnahme, der einzige Talisman, der einen alptraumhaften Morgen zu bannen vermochte. Das Format stach ihm weniger ins Auge als das Papier, glänzend, prächtig wie Seide, und die Farbe, ein anämisches Himmelblau, das irgendwann einmal, zum Zeitpunkt des Kaufs, Lavendel gewesen sein mochte. Als befolgte er ein unter Empfängern altmodischer Briefe vorgeschriebenes Protokoll, führte Rímini den Brief an die Nase. Der Duft (eine Mischung aus Benzin, Nikotin und Erdbeer- oder Kirschkaugummi) hatte weniger etwas mit dem Papier oder der Farbe des Umschlags zu tun, eher mit den Fingern des Briefträgers, deren Abdrücke sich an den Rändern verewigt hatten. Ein Absender fehlte; auch die Schrift sagte ihm nichts. Ríminis Adresse war in großen Druckbuchstaben geschrieben, zu unpersönlich, um spontan zu sein (nicht das Herz hat sie diktiert, sondern die List, dachte er und war plötzlich auf die Seiten eines erotischen Romans geraten): nichts, was nicht auch Zufall oder geringe Vertrautheit mit der Praxis des Briefschreibens erk…


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