Lebensqualität als Konflikt

Lebensqualität als Konflikt

Einband:
Kartonierter Einband
EAN:
9783593510194
Untertitel:
Eine Ethnografie häuslicher Sterbebetreuung
Genre:
Sonstige Soziologie-Bücher
Autor:
Falko Müller
Herausgeber:
Campus
Anzahl Seiten:
342
Erscheinungsdatum:
13.02.2019
ISBN:
978-3-593-51019-4

Die Vorstellung, zu Hause zu sterben, wird als Ideal eines selbstbestimmten Lebensendes gehandelt. Dies zu verwirklichen, um die Lebensqualität von Menschen zu erhalten, die von einer nicht heilbaren Erkrankung betroffen sind, ist das Ziel der palliativen Sterbebetreuung. Im Mittelpunkt der Ethnografie von Falko Müller stehen Hausbesuche bei allein lebenden Patientinnen und Patienten. Die Studie zeigt, wie der Anspruch, Selbstbestimmung am Lebensende zu erhalten, zu den impliziten Annahmen über häusliche Lebensweisen in Konflikt gerät, auf denen das institutionelle Arrangement der professionellen Sterbebetreuung beruht.

Autorentext
Falko Müller, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiter am Department Erziehungswissenschaft und Psychologie der Universität Siegen.

Leseprobe
1 Einleitung Was Lebensqualität ist, lässt sich kaum eindeutig beantworten. Es ist ein schillernder Begriff, der unausgesprochen eine Orientierung verspricht, wie ein "gutes Leben" möglich ist. Dahinter können ganz unterschiedliche Vorstellungen stehen. Lebensqualität steht beispielsweise für die Annahme, dass ein "gutes Leben" mehr ausmacht als ökonomischer Wohlstand, aber auch mehr als eine möglichst lange Lebenszeit. Dass solche Begriffe normativ aufgeladen sind, macht sie umkämpft. Bei genauerem Hinsehen verweisen sie auf gesellschaftliche Konflikte. Im bundesdeutschen sozialpolitischen Diskurs hat der Begriff Lebensqualität durch Datenreports und Sozialberichterstattung der frühen 1970er Jahre Verbreitung gefunden. Diese Entwicklung ist im Zusammenhang einer internationalen "Sozialindikatorenbewegung" der Politik- und Wirtschaftsforschung zu verorten. Lebensqualität steht hier für die Seite des "subjektiven Wohlbefindens" gegenüber den "objektiven" Lebensbedingungen, die durch die Kennzahlen der Wohlstands- und Wohlfahrtsmessung erhoben werden. Im "Capability Approach" des Ökonomen Amartya Sen steht der Begriff für den Zusammenhang von Handlungsspielräumen im gesellschaftlichen Umfeld, die über vorhandene oder blockierte Verwirklichungschancen und "well-being" der Menschen entscheiden. Lebensqualität bezeichnet hier ein Verhältnis und verweist dabei auf Konflikte um Zugang zu, um Verteilung und - angesichts klimatischer Folgen, Umweltverschmutzung und "Grenzen des Wachstums" - um Ausbeutung von Ressourcen. Verbindet sich in der sozio-ökonomischen Forschung mit dem Konzept "Lebensqualität" einerseits der Gedanke der Nachhaltigkeit und andererseits die Vorstellung, die Bedingungen des guten Lebens durch sozialpolitische Entscheidungen zu gestalten, ist es im Sozial- und Gesundheitswesen die Idee der Ganzheitlichkeit. Hier kann die Hinwendung zum Begriff der Lebensqualität als "subjektivem" Faktor des Wohlbefindens ebenfalls als Paradigmenwechsel verstanden werden. Dieser Wechsel ist als Folge der fortschrittskritischen Bewegungen zu sehen, die sich gegen eine "Entmündigung durch Experten" (Illich u.a. 1979) und Verdinglichung durch apparative Hochleistungsmedizin wenden. Dabei wird der Begriff Lebensqualität nicht aus der Wirtschafts- und Sozialforschung adaptiert. Er hat in der Medizin eine eigene gebrochene Tradition, die in die Eugenik des frühen 20. Jahrhunderts zurückreicht (Kovács 2016). "Qualität des Lebens" steht hier für die Unterscheidung erwünschter und unerwünschter Eigenschaften von Individuen, die sich argumentativ auf evolutionsbiologische Vorstellungen stützt. Dabei gehen die Eugeniker_innen von einer Degeneration der menschlichen "Rasse" als Folgewirkung sozialer und technischer Errungenschaften aus (vgl. Kovács 2016: 14 f.). So hat dieses "vergessene" (Kovács) Verständnis von Lebensqualität mit dem Reformbegriff der 1970er Jahren den fortschrittskritischen Impetus als Gemeinsamkeit. Der zentrale konzeptionelle Unterschied zwischen den beiden medizinischen Ideen von Lebensqualität besteht in der Blickrichtung, die eingenommen wird. Während die eugenische Medizin vom autoritären Standpunkt anhand einer normativen Vorstellung der "Qualität des Lebens" über Individuen und Personengruppen urteilt, liegt der reformorientierten Vorstellung eine Hinwendung zum Erleben und subjektiven Wohlbefinden der Patient_innen zugrunde. Hieraus haben sich in den vergangenen Jahrzehnten in den medizinischen, pflegerischen und psychologischen Forschungsdisziplinen weit ausdifferenzierte Zweige des quality of life research etabliert, welche Lebensqualität in diversifizierten Items messen und verobjektivieren. Der Erfolg medizinischer Eingriffe bemisst sich somit nicht mehr allein nach biomedizinischen Kriterien, sondern wird ergänzt durch einen "subjektiven" Faktor. Mit dem Aufstreben der Hospizbewegung im westeuropäischen und nordamerikanischen Raum etabliert sich aber auch ein Verständnis von Lebensqualität als Gegenkonzept zur "quantitativen" Verlängerung des Lebens durch belastende medizinisch-technische Eingriffe. Diese Tradition entwickelt sich über die Hospizbewegung hinausgehend zum Ansatz der Palliative Care weiter (Schütte-Bäumner 2012: 137 f.). Im deutsch-sprachigen Raum hat sich in den vergangenen Jahren ein Verständnis von Palliative Care etabliert, das mit palliativmedizinischer und -pflegerischer Versorgung das Ziel verbindet, "die Lebensqualität und die Selbstbestimmung schwerstkranker Menschen zu erhalten, zu fördern und zu verbessern und ihnen ein menschenwürdiges Leben bis zum Tod [] zu ermöglichen" (§ 1 Abs. 1 Satz 1 SAPV-RL). Der ohnehin normative Begriff der Lebensqualität wird weiter aufgeladen durch die Vorstellungen von Selbstbestimmung und Würde. Weil der Begriff Lebensqualität an der Schnittstelle von subjektivem Wohlbefinden und objektiven Lebensbedingungen angesiedelt ist, fügt er sich nicht nur in die programmatischen Versprechen personenbezogener Dienstleistungen wie Medizin, Pflege und Soziale Arbeit unter der Überschrift Subjektorientierung besonders gut ein, sondern auch in die Steuerungsstrategien zur Verwaltung des Sozialen. Aktuell findet er sich in den verschiedensten Kontexten wieder. Das zuletzt eingebrachte Zitat ist der geltenden Verordnungsrichtlinie für ambulante Palliativversorgung des Gemeinsamen Bundesausschusses entnommen. Als Zielsetzung einer wohlfahrtsstaatlichen Versorgungsleistung wird Lebensqualität zu einer administrativ verwalteten Kategorie. Der Begriff firmiert außerdem als Leitbegriff der vom Bund finanzierten Forschungsförderlinie "Soziale Innovationen für Lebensqualität im Alter (SILQUA-FH)", durch welche die vorliegende Arbeit möglich wurde und erscheint in seiner sozioökonomischen Variante als Schlüsselbegriff der Regierungsstrategie "Gut leben in Deutschland - was uns wichtig ist" (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2016). Die 2016 amtierende Bundesregierung der 18. Legislaturperiode schreibt hierzu in ihrem "Bericht zur Lebensqualität in Deutschland": "Lebensqualität ist ein ganzheitlicher Zielbegriff, der wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte gleichermaßen umfasst. Die Verbesserung der Lebensqualität ist Aufgabe der Politik ebenso wie gesellschaftlicher Kräfte, der Wirtschaft und nicht zuletzt der einzelnen Bürgerinnen und Bürger selbst." (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2016: 5) Als Chiffre für Ganzheitlichkeit, Nachhaltigkeit und Subjektorientierung steht Lebensqualität für die Strukturqualität gestalteter Rahmenbedingungen, für geteilte Verantwortung sowie die Verpflichtung des oder der Einzelnen auf Mitwirkung. Von hier aus, will ich die Brücke zum Gegenstand der vorliegenden Arbeit schlagen: Die Hinwendung sozialer Dienstleistungsprogrammatiken zur "Lebensqualität" verstehe ich als Ausdruck einer spezifischen Form der Subjektorientierung, deren Weg durch die Institutionen sich von der emanzipatorischen Kritik am wohlfa…


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