Gebärende unter Beobachtung

Gebärende unter Beobachtung

Einband:
Kartonierter Einband
EAN:
9783593509556
Untertitel:
Die Etablierung der männlichen Geburtshilfe in Frankreich (1750-1830)
Genre:
Neuzeit bis 1918
Autor:
Lucia Aschauer
Herausgeber:
Campus
Anzahl Seiten:
344
Erscheinungsdatum:
31.12.2019
ISBN:
978-3-593-50955-6

Zwischen 1750 und 1830 vollzog sich in Frankreich ein medizinischer Paradigmenwechsel: War die Geburtshilfe bis dato in weiblicher Hand, machten sich nun männliche Ärzte und Chirurgen mit aufklärerischem Eifer an die Erschließung des schwangeren und gebärenden Frauenkörpers. Ihr Ziel war es, sich als neue wissenschaftliche Autorität in der Geburtshilfe zu etablieren - zum Nachteil der Hebammen und ihres Erfahrungswissens, die allmählich verdrängt wurden. Anhand von circa 300 Fallberichten ("observations") aus medizinischen Zeitschriften eröffnet Lucia Aschauer neue Perspektiven auf die Geschichte von Schwangerschaft und Geburt und legt die Entstehungsbedingungen einer bis heute fortwirkenden geburtshilflichen Wissensordnung offen.

»Das Buch überzeugt durch seine kluge Analyse der Texte.« Jürgen Schlumbohm, H-Soz-Kult, 27.04.2021 »Lucia Aschauer [liefert] mit ihrer Studie nicht nur einen fundierten Überblick über die bestehenden Ansätze auf dem stetig wachsenden Feld der Fallgeschichtsforschung, sondern bereichert dieselbe mit einem innovativen und akribisch recherchierten Beitrag. Mit ihrer Analyse der Narratologie des (geburtshilflichen) Falls wendet sich die Historikerin einer neuen, durchaus erkenntnisreichen Facette der historischen Fallgeschichtsforschung zu, die nicht nur im spezifischen Kontext der Geburtshilfe wertvolleImpulse liefert, sondernauch darüber hinausAnwendungin der Wissenschafts-, Kultur- und Medizingeschichte finden sollte.« Marina Hilber, Zeitschrift für historische Forschung, 48 (2021) 1 »Atemberaubend gut!« Eva Hallama, WeiberDiwan, 25.07.2022

Autorentext
Lucia Aschauer promovierte an der Universität Bochum; sie arbeitet derzeit an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) und am Centre interdisciplinaire d'études et de recherches sur l'Allemagne (CIERA) in Paris.

Leseprobe
1. Einleitung 1.1 Der Fall Siccaud. Konstitution des Untersuchungsgegenstandes Im Herbst des Jahres 1754 tritt die 37-jährige Demoiselle Siccaud in den Stand der Ehe. Kurze Zeit darauf häufen sich die Zeichen einer beginnenden Schwangerschaft: Unwohlsein, Übelkeit und Erbrechen, Veränderungen in der Farbe und Form der Brüste sowie eine unbändige Lust auf bestimmte Nahrungsmittel. Rasch kommen die untrüglichen Bewegungen des im Mutterleib heranwachsenden Kindes dazu. Der hinzugerufene Arzt Monsieur Deydier bestätigt bei seiner Ankunft im Hause der Schwangeren die Selbstdiagnose seiner Patientin. Lediglich die fortdauernde Monatsblutung der Demoiselle bereitet ihm Sorgen, die sich bald als begründet erweisen: Im vierten Schwangerschaftsmonat erleidet die Patientin eine Fehlgeburt und statt eines Kindes wird dem Arzt ein blutiges, heuschreckenartiges Etwas vorgelegt. Auf den Schrecken dieser unheilvollen Niederkunft folgt wenige Zeit später eine zweite Schwangerschaft. Zunächst deutet alles auf einen unproblematischen Verlauf hin, doch erneut lässt das Unglück nicht lange auf sich warten. Die erwartete Geburt bleibt aus und die Demoiselle leidet monatelang unter schmerzhafter Wassersucht, die sie zur Bettruhe zwingt. Nahezu zwei Jahre vergehen, bevor sie im Februar des Jahres 1757 schließlich mithilfe ihrer Hebamme ein totes Kind zur Welt bringt. Noch im selben Jahr wird die Geschichte der Demoiselle Siccaud und ihrer kuriosen Schwangerschaften in der Rubrik »Observations de Médecine« der Zeitschrift Recueil périodique d'observations de médecine, de chirurgie et de pharmacie unter der Überschrift »Histoire d'une fausse-couche singulière, suivie peu de tems après d'une grossesse extraordinaire« einem medizinischen Fachpublikum präsentiert. Die erste Konfrontation der Leserin mit dem Fall Siccaud löst heute Befremden aus. Aus der ärztlichen Schilderung spricht eine beunruhigende Unkenntnis der weiblichen Physiologie, Aderlass und Purgieren werden als wertvolle Therapiemaßnahmen bei Schwangerschaftskomplikationen gepriesen und die Demoiselle erfährt zu keinem Zeitpunkt eine Linderung ihrer Schmerzen. Mit anderen Worten, dieser Fall von Monstergeburt und nicht enden wollender Gravidität scheint einem obskuren, geradezu vorwissenschaftlichen Zeitalter zu entspringen. Um Sinn aus dieser auf den ersten Blick unsinnigen Erzählung zu schaffen, führt der Weg so die methodische Grundvoraussetzung vorliegender Untersuchung über die Historisierung, die mit Glenn Most als »a specific mode of cognitive activity which defines a body of knowledge [] by its temporal structure« definiert werden kann. Im Fall der Demoiselle Siccaud bedarf das Befremdliche, seien es medizinische Begriffe, ärztliche Argumentationsweisen oder geburtshilfliche Praktiken, einer Rückführung in seine ursprünglichen epistemischen Welten. Gleichzeitig gilt es, irreführenden retrospektiven Diagnosen vorzubeugen, indem Vorannahmen, die auf heutigen medizinischen Kenntnissen gründen, kenntlich gemacht werden. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Demoiselle Siccaud erfordert daher sowohl Kontextualisierung, das Vertrautmachen des Fremden, als auch Entfamiliarisierung, das Fremdmachen des Vertrauten. Über die Historisierung von konkreten medizinischen Begriffen und Praktiken hinaus muss die Analyse des Falls Siccaud eine tiefergreifende Historisierung von Körperlichkeit leisten. Wird der Demoiselle gleich im ersten Satz des ärztlichen Berichts ein »tempérament sanguin, vif & bileux« attestiert, deutet dies auf den nachhaltigen Erfolg humoralpathologischer Erklärungsmuster hin, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Diskurse zugleich prägten. Spätestens die detailreiche Beschreibung des toten Fötus, den der Arzt einer gewissenhaften Sektion unterzieht, zeugt jedoch von dem Herannahen eines neuen, anatomisch-physiologischen Körperbildes. Auch die Darstellung der monströsen Fehlgeburt der Demoiselle ist nicht frei von Ambivalenz. Wird die Imagination der Leserin zunächst angeregt durch die Erwähnung eines »corps solide de la figure d'une sauterelle privée de ses ailes« , bricht der Verfasser des Berichts schon im nächsten Halbsatz mit der Heraufbeschwörung des Kuriositätendiskurses und stellt in aufklärerischer Manier fest: »[] je ne doute point que cet objet, vu par des gens crédules, n'eût donné lieu à un de ces contes avec lesquels nous savons qu'on abuse trop souvent de la simplicité du peuple [].« Wie ist dieser erzählerische Bruch zu deuten? Der mäandernde Verlauf der zweiten Schwangerschaft der Demoiselle stellt die Leserin des ärztlichen Berichts vor ein weiteres Rätsel. Bereits die einleitende Schwangerschaftsdiagnose erfolgt in zweideutiger Rede: »Environ cinq mois après, elle éprouva les maux de cur, les nausées, les vomis¬semens, les envies pour certains alimens []. Elle se crut grosse [].« Dass der Verfasser des Berichts die Eindrücke der Demoiselle zitiert, statt seine eigene Diagnose zu erstellen, zeugt von seiner starken Abhängigkeit gegenüber dem Erfahrungswissen seiner Patientin, aber auch von einer Distanziertheit, die im Laufe der Fallerzählung in offenes Misstrauen umschlägt. Als die zweite Schwangerschaft seiner Patientin kein Ende nehmen will, formuliert Monsieur Deydier seinen Argwohn explizit: »Je ne cessois [] de l'assurer positivement [dans l'idée] d'une grossesse d'enfant []; j'avoue que j'en avais dès long-tems une tout autre [].« Was verbirgt sich hinter diesen zähen Verhandlungen zwischen dem Arzt und der Demoiselle über die korrekte Schwangerschaftsdiagnose? Eine weitere Figur sticht schließlich bei der Lektüre des Falls Siccaud hervor: die Hebamme, die in der geburtshilflichen Handlung eine tragende Rolle spielt. Sie bleibt stets an der Seite der Demoiselle, betreut sie während ihrer Schwangerschaften, führt die Entbindungen durch und wirft somit die Frage auf: Wer ist in diesem geburtshilflichen Bericht eigentlich der wahre Geburtshelfer? Auch in dieser Hinsicht scheint eine starke Informationsabhängigkeit des Arztes gegenüber einem durch die He…


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