Kulturen der Sorge

Kulturen der Sorge

Einband:
Kartonierter Einband
EAN:
9783593508948
Untertitel:
Wie unsere Gesellschaft ein Leben mit Demenz ermöglichen kann
Genre:
Medizin-Lexika
Herausgeber:
Campus
Anzahl Seiten:
565
Erscheinungsdatum:
30.06.2018
ISBN:
978-3-593-50894-8

Mediale Darstellungen und öffentliche Debatten setzen Demenz meist mit Verlust der Persönlichkeit gleich. Dieser Band zeigt das Gegenteil: Menschen mit Demenz sind selbstverantwortlich handelnde Persönlichkeiten, und sie haben eine Stimme, die gehört werden sollte. Was berichten sie über ihre Erfahrungen und Gefühle? Wie deuten, gestalten und organisieren sie ihren Alltag? Aber auch: Wie reagiert das Umfeld? Welche Netzwerke der Selbsthilfe und Sorge bilden sich infolge einer Demenzdiagnose? Die Beiträger plädieren für eine kulturwissenschaftliche Demenzforschung und erkunden Dimensionen von Demenz mit der Absicht, Lebenslagen von Betroffenen, ihren Angehörigen und ihrer Umgebung zu verbessern.

»Die gesammelten Beiträge namhafter und kompetenter Autorinnen und Autoren aus mehreren Ländern stellen eine inspirierende Quelle und Fundgrube für alle dar, die das Thema Demenz auf dem Stand aktueller Erkenntnisse reflektieren möchten.«, demenz. Das Magazin, 01.10.2018 »Selten hält man eine Publikation zur Demenz in der Hand, die derart facettenreich die Thematik intensiv behandelt. Dabei ist es auch der kritische Blick vieler Autorinnen und Autoren, der einen zum Nachdenken bringt und der weiterführend ist. Auch die international vergleichende Perspektive ist bereichernd und macht deutlich, dass wir in Deutschland in Sachen Demenz noch viel zu provinziell unterwegs sind.« Hermann Brandenburg. socialnet.de, 24.11.2020 »Der Sammelband bietet einen weiteren wichtigen Baustein im Kreis wachsender Forschungen und Publikationen zur Gesundheitsforschung, zu Fragen von Fürsorge, gesellschaftlichen Entwicklungen und Ähnlichem, die stärker interdisziplinär ins Licht der Aufmerksamkeit gerückt werden, wodurch die Komplexität der Sorge-Thematik sowie deren Perspektivenvielfalt deutlich wird. Die Bündelung verschiedener Forscher und Forscherinnen, in deren Beiträgen weitere Hin- und Verweise auf Studien, Literatur und Erkenntnisse geliefert werden, ermöglicht so eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Thema.« Karin Lahoda, Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2020

Autorentext
Harm-Peer Zimmermann ist Professor am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich.

Leseprobe
Vorwort Kulturen der Sorge - bei Demenz: Kulturwissenschaftliche Gesichtspunkte Alzheimer-Demenz: neurofibrilläre Tangles und senile Plaques; vaskuläre Demenz: hypoxisch-ischämische Hirnläsionen - so lauten die neurophysiologischen Schlüsselbegriffe für die beiden häufigsten Formen von Demenz. - Und nun? Was besagen solche Klassifikationen und Kodierungen von Demenzdiagnosen (ICD-10-GM 2016; DSM-5 2013/14) über das Leben eines Menschen mit Demenz, fragt der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen angesichts seines demenzkranken Vaters (Franzen 2007: 26; dazu Pott 2014). Bei allem Respekt vor der Medizin und der Hirnforschung, so Franzen: Über die Komplexität einer Persönlichkeit noch im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung können neurochemische Koordinaten und Prozesse allein keine Auskunft geben. Störungen von "Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen" (ICD-10-GM, 2016: F00.-*) - solche klinischen Beschreibungen von kognitiven Symptomen kommen schon näher an die Lebenswirklichkeit heran. Aber auch damit ist noch nicht allzu viel gesagt über konkrete Erfahrungen, Intentionen und Reaktionen einzelner Menschen, über ihre Befindlichkeiten und Möglichkeiten der Lebensgestaltung in vielfältigen Situationen und Umgebungen des Alltags (Pott 2014: 175). Das wissen Mediziner, zumal Hausärzte, durchaus selbst: Mit medizinischen Diagnosen und Indikationen ist es nicht getan: Gedächtnisleistungen zum Beispiel sind wesentlich vom kulturellen Umfeld und sozialen Milieu abhängig, worin sich ein Mensch mit Demenz bewegt (Wißman/Gronemeyer 2008: 147). Und Erinnerungen sind nicht nur im Kopf, sondern auch im Körper gespeichert: in Haltungen, Mimik, Gestik, Bewegungen (Kontos/Martin 2013; Martin et al. 2013; Downs 2013; Whitehouse 2000), nicht zuletzt in Kleidungsstilen (Twigg/Buse 2013; Ward/Campbell 2013). Kurz gesagt: Wir brauchen mehr Studien, die das alltägliche Leben von Menschen mit Demenz in den Mittelpunkt stellen, vor allem Mikrostudien, in denen Betroffene selbst ausführlich zu Wort kommen. Und wir brauchen mehr Untersuchungen zu kulturellen Fragen. Der Band Kulturen der Sorge - Wie unsere Gesellschaft ein Leben mit Demenz ermöglichen kann dokumentiert 29 Beiträge von Demenzforscherinnen und Demenzforschern aus unterschiedlichen Disziplinen: Kulturwissenschaft, Gerontologie, Soziologie, Theologie, Medizingeschichte, Literaturwissenschaft, Pflegewissenschaft, Medizin, Ethik, Rechtswissenschaft. Bei aller Disparatheit der Ansätze haben sich alle Beiträgerinnen und Beiträger darauf eingelassen, aus der Warte ihrer Disziplin zugleich einen kulturwissenschaftlichen Fokus zu entwickeln, sodass Demenz jeweils unter einer kulturellen Perspektive betrachtet wird. Die Beiträge sind als Referate auf dem 2. Kongress Kulturwissenschaftliche Altersforschung gehalten und diskutiert worden, der vom 18. bis 20. November 2016 vom Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich ausgerichtet wurde. Was aber hat Demenz mit Kultur zu tun? Und inwiefern brauchen wir eine Kultur der Sorge, wenn es um Menschen mit Demenz geht? Und inwiefern ist Sorge eine kulturelle Frage? Kultur Kulturwissenschaftliche Forschungsansätze gehen davon aus: Menschen mit Demenz sind und bleiben selbstverantwortlich handelnde Persönlichkeiten, aktiv und kreativ, und sie haben eine "Stimme", die gehört werden sollte: Was berichten und erzählen sie über ihre Erfahrungen und Gefühle? Wie deuten, gestalten und organisieren sie ihren Lebensalltag? Welche life story narratives entwickeln sie (im Überblick: Völk 2017)? Und welche Rolle spielt dabei der jeweilige lebensgeschichtliche Hintergrund (Van Gorp/Vercruysse 2012; Beard et al. 2009)? Aber auch: Wie reagiert das familiäre und weitere Umfeld? Und inwiefern sind diese Reaktionen situationsabhängig? Welche Verständigungsformen und Narrative sind dort anzutreffen? Welche Netzwerke der Selbsthilfe und Sorge bilden sich infolge einer Demenzdiagnose? Solche soziokulturellen Fragen werden insbesondere in den dementia studies (Innes 2009) untersucht. Hier geht es darum, alltägliche Dimensionen des Lebens mit Demenz zu erkunden und zu verbessern. Dazu gehört auch, vorherrschenden Bildern der Bedrohung und Bedrückung entgegenzuwirken (Grebe et al. 2013; Grebe 2015). Es geht um Kritik an einer öffentlichen Debatte, die vor allem von Belastungen spricht: Wer soll die zunehmende Zahl von Menschen mit Demenz versorgen und pflegen? Wer soll das alles bezahlen? Solche Fragen bleiben stets die Antwort schuldig: Was wäre denn die Alternative? Soll man Menschen mit Demenz sich selbst überlassen? Oder sie zu Low-Budget-Konditionen versorgen? Zugleich geht es um Kritik an einer öffentlichen Debatte, die vor allem von Verlusten spricht: Demenz führe zum totalen "Persönlichkeitsverlust", liest man nicht selten; Demenz bedeute den unaufhaltsamen "Absturz ins Nichts" (Grebe et al. 2013; Grebe 2015). Mit solchen Metaphern machen wir Menschen mit Demenz zu anderen, fremdartigen, verworfenen Wesen. Solche Metaphern sorgen für eine einschneidende Unterscheidung zwischen uns und ihnen: hier wir, die Gesunden, Geistesgegenwärtigen, voll bei Sinnen (wenigstens nach vorherrschendem Selbstverständnis); dort sie, die Geistesabwesenden, Teilnahmslosen, Hirnverbrannten, die eine Sphäre des "Nichts" verkörpern, des Nichtlebbaren - als wären sie Untote (Zimmermann 2016). In einer neoliberalen Ökonomie und Gesellschaft, die extrem auf individuelle Selbstständigkeit und kognitive Leistungsfähigkeit baut, wird Demenz zur Metapher, die versinnbildlicht, wovor wir uns von Grund auf fürchten: vor Kontrol…


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