NS-Euthanasie und internationale Öffentlichkeit

NS-Euthanasie und internationale Öffentlichkeit

Einband:
Kartonierter Einband
EAN:
9783593508030
Untertitel:
Die Rezeption der deutschen Behinderten- und Krankenmorde im Zweiten Weltkrieg
Genre:
Zeitgeschichte (1946 bis 1989)
Autor:
Thorsten Noack
Herausgeber:
Campus
Anzahl Seiten:
265
Erscheinungsdatum:
17.08.2017
ISBN:
978-3-593-50803-0

Internationale Berichte über einen auf industrielle Weise durchgeführten Massenmord entstanden im Zweiten Weltkrieg nicht erst im Zusammenhang mit dem Holocaust, sondern schon früher: in der Rezeption der "Euthanasie", mit der der nationalsozialistische Genozid unmittelbar nach Beginn des Krieges einsetzte. Thorsten Noacks Studie analysiert, wie Politik und Öffentlichkeit in drei Ländern - in Großbritannien, den USA und der Schweiz - auf die Nachrichten von den Behinderten- und Krankenmorden reagierten. Sie zeigt zudem die Wege auf, die das Wissen über die Morde ins Ausland nahm, und beschreibt die Auswirkungen der internationalen Berichterstattung auf die Kenntnisse der deutschen Bevölkerung sowie auf die Abläufe der Medizinverbrechen.

»Thorsten Noack hat mit seiner Habilitationsschrift eine Pionierstudie über die internationale Rezeption der Behinderten- und Krankenmorde im Zweiten Weltkrieg vorgelegt, die aus zahlreichen ausländischen Archiven erarbeitet ist. [] Er zeigt die Wege der Nachrichten ins Ausland auf und ordnet seine plausiblen Thesenbildungen in die bestehende Forschung zur NS-Euthanasie ein.[1] Insgesamt ist der dokumentarische Wert des Buches hervorzuheben, der durch den Abdruck der übersetzten Dokumente am Ende des Bandes unterstrichen wird.« Uwe Kaminsky, H-Soz-Kult, 01.08.2018 »Die Fülle der detaillierten Informationen [ist] eine Fundgrube für alle am Thema Interessierten.« Franz Schweitzer, Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg, 17.06.2019

Autorentext
Thorsten Noack arbeitet als Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und ist Dozent am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Düsseldorf.

Zusammenfassung
Internationale Berichte über einen auf industrielle Weise durchgeführten Massenmord entstanden im Zweiten Weltkrieg nicht erst im Zusammenhang mit dem Holocaust, sondern schon früher: in der Rezeption der "Euthanasie", mit der der nationalsozialistische Genozid unmittelbar nach Beginn des Krieges einsetzte. Thorsten Noacks Studie analysiert, wie Politik und Ãffentlichkeit in drei Ländern - in GroÃbritannien, den USA und der Schweiz - auf die Nachrichten von den Behinderten- und Krankenmorden reagierten. Sie zeigt zudem die Wege auf, die das Wissen über die Morde ins Ausland nahm, und beschreibt die Auswirkungen der internationalen Berichterstattung auf die Kenntnisse der deutschen Bevölkerung sowie auf die Abläufe der Medizinverbrechen.

Leseprobe
Das vergessene Wissen Als die Alliierten Deutschland eroberten, waren die Zeugnisse unvorstell-barer Verbrechen allgegenwärtig. Vor allem die breite Berichterstattung unmittelbar aus den befreiten Lagern führte 1945 in eindrucksvollen Bil-dern die Bestialität des NS-Regimes vor Augen. Auch auf einige psychiatrische Anstalten, in denen noch deutlich sichtbare Spuren exzessiver Gewalttaten existierten, wurde die internationale Öffentlichkeit aufmerksam. Im Zentrum der US-amerikanischen Berichterstattung stand dabei fast ausschließlich die idyllisch gelegene hessische Heil- und Pflegeanstalt Ha-damar, ein großes Zentrum des Mordens, das die Tagespresse wie viele Konzentrationslager als "slaughterhouse", "death mill" und "murder facto-ry" bezeichnete. Zum ersten Mal erschienen Anfang April, zwei Tage nach der Befreiung durch die zweite Division der Ersten US-Armee, Arti-kel über Hadamar in überregionalen Zeitungen. Bislang war nichts über diese Einrichtung und ihre Funktion bekannt geworden. Wie andere Zei-tungen berichtete die Washington Post, dass, von Berlin aus gesteuert, seit Kriegsbeginn 20.000 politische Gefangene, Zwangsarbeiter und Juden in Hadamar umgebracht worden seien, was die renommierte Tageszeitung "mercy killings" (unter Verwendung der Anführungszeichen) nannte. Nach einem Protestbrief des Münsteraner Bischofs von Galen und dem Aufbegehren der lokalen Bevölkerung sei die Mordmethode von Gas auf Injektionen umgestellt und die Toten seien nicht mehr verbrannt, sondern in Massengräbern verscharrt worden. Die Gestapo, so der laut Washington Post auskunftswillige ärztliche Leiter, habe die Menschen für psychisch krank erklärt und die Morde angeordnet. Nicht geisteskranke Anstaltsinsassen, sondern geistig Gesunde seien in Wirklichkeit Opfer geworden. Die ersten Presseberichte, in die augenscheinlich auch exkulpatorische Darstellungen des Anstaltspersonals eingingen, vermengten Informationen über unterschiedliche Stadien der NS-Euthanasie und waren teilweise falsch. Entgegen des ersten Eindrucks, den die US-amerikanischen Jour-nalisten vor Ort erhielten, waren in der Einrichtung vor allem behinderte und psychisch kranke "Volksgenossen" ermordet worden. Doch hatten, wie ich im Folgenden unter anderem darstellen möchte, schon im Krieg die verzerrte Benennung der Hauptopfergruppe und die Heroisierung des Widerstandes die Berichterstattung über die NS-Euthanasie in den Verei-nigten Staaten geprägt. So prominent die Schlagzeilen in den Tagesmedien über Hadamar wa-ren, so prioritär war für die Amerikaner die strafrechtliche Ahndung der dort verübten Verbrechen. Diese wurden zum Gegenstand des ersten Kriegsverbrecherprozesses in der US-amerikanischen Zone, der vom 8. bis 15. Oktober 1945 vor einem Militärgericht in Wiesbaden stattfand. Thematisiert wurde der Mord an fast 500 Zwangsarbeitern seit Juli 1944, die Ahndung der Verbrechen an Patienten mit deutscher Staatsbür-gerschaft sollte deutschen Gerichten überlassen werden. Während des Prozesses berichteten am 12. Oktober einige Zeitungen, dass dem Zeugen Hans Quambusch zufolge, in der Kriegszeit Oberstaatsanwalt am Landge-richt Wiesbaden, ein schriftlicher "Führerbefehl" zur Krankentötung exis-tiert habe. Sein Vorgesetzter sei 1941 nach Berlin beordert worden, wo ihm eine Kopie des Dokuments gezeigt worden sei. Hitlers Befehl habe sich allerdings nicht auf Ausländer bezogen. Das US-amerikanische Gericht schenkte Quambuschs Aussage Glau-ben. Tatsächlich hatte das Reichsjustizministerium am 23. und 24. April 1941 alle Generalstaatsanwälte und Präsidenten der Oberlandesgerichte, also die höheren Vertreter der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit, in das ehe-malige Preußische Abgeordnetenhaus nach Berlin eingeladen. Auf der Ta-gung, an der etwa 100 Personen teilnahmen, war auch das geheime Schreiben Hitlers präsentiert worden. Vermutlich hatte es sich bei dem Exemplar um die Kopie gehandelt, die der wenige Wochen zuvor im Ja-nuar 1941 verstorbene Reichsjustizminister Franz Gürtner aufbewahrt hatte. Das vom Oktober 1939 auf den Kriegsbeginn am 1. September zu-rückdatierte Dokument hatte allerdings keinen Befehl enthalten, wie die Zeitungen zunächst berichteten. Hitlers Begleitarzt Karl Brandt und Phi-lipp Bouhler, Leiter der Kanzlei des Führers, waren, so die euphemistische Tarnsprache, "unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann." Das Schriftstück, das die "klassische" medizinische Sterbehilfe schwer kranker Menschen zu thematisieren schien, konnte eine starke Wirkung entfalten. Aufgrund der Verehrung und Stellung Hitlers vermochte es skeptische Stimmen zum Verstummen zu bringen und dem Handeln der Verantwortlichen eine weitreichende Legitimation zu verleihen. Wenige Tage vor Hans Quambusch hatte Karl Brandt in einer Ver-nehmung in Nürnberg am 1. Oktober die Existenz des Schriftstücks kurz erwähnt, dabei allerdings unterschlagen, dass er einer der beiden Bevoll-mächtigten Hitlers gewesen war; zu dieser Zeit gelang es ihm noch, seine Rolle in der ersten Phase der NS-Euthanasie, der "Aktion T4", zu verber-gen. Doch einige Wochen später, am 17. Dezember 1945, konnte der amerikanische Ankläger im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrec…


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