Demokratie im Ausnahmezustand

Demokratie im Ausnahmezustand

Einband:
Paperback
EAN:
9783593507170
Untertitel:
Wie Regierungen ihre Macht ausweiten
Genre:
Politische Ideengeschichte & Theorien
Autor:
Matthias Lemke
Herausgeber:
Campus
Anzahl Seiten:
304
Erscheinungsdatum:
31.03.2017
ISBN:
978-3-593-50717-0

Der Ausnahmezustand ist zum Dauerzustand geworden: In Frankreich, der Türkei, aber auch in Spanien, Großbritannien und in den USA sind in jüngerer Vergangenheit in Reaktion auf Anschläge, Streiks und Putschversuche die politischen Verhältnisse in Bewegung geraten. Angesichts von Krisen ziehen Regierungen immer mehr Kompetenzen an sich. Durch verfassungsrechtliche Regelungen verschiebt sich das machtteilige Gefüge der Demokratie. Es steht zu befürchten - so dieses Buch -, dass nicht die Krise selbst, sondern die Verhängung des Ausnahmezustandes und deren Folgen zur zentralen Herausforderung demokratischen Regierens in den nächsten Jahren wird.

Autorentext
Matthias Lemke, PD Dr., ist Politikwissenschaftler; er lehrt und forscht an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Bundespolizei, in Lübeck.

Klappentext
Der Ausnahmezustand ist zum Dauerzustand geworden: In Frankreich, der Türkei, aber auch in Spanien, Großbritannien und in den USA sind in jüngerer Vergangenheit in Reaktion auf Anschläge, Streiks und Putschversuche die politischen Verhältnisse in Bewegung geraten. Angesichts von Krisen ziehen Regierungen immer mehr Kompetenzen an sich. Durch verfassungsrechtliche Regelungen verschiebt sich das machtteilige Gefüge der Demokratie. Es steht zu befürchten - so dieses Buch -, dass nicht die Krise selbst, sondern die Verhängung des Ausnahmezustandes und deren Folgen zur zentralen Herausforderung demokratischen Regierens in den nächsten Jahren wird.

Leseprobe
1. Demokratie im Ausnahmezustand
"Das positive Recht kann dem Souverän niemals absolute Schranken setzen."
Hermann Heller
Nachdenken über den Ausnahmezustand kommt an Plettenberg nicht vorbei, seine empirische Analyse schon. Warum? Der viel zitierte Satz aus Carl Schmitts Politischer Theologie, wonach "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" (Schmitt 1922: 11), weist dem Ausnahmezustand einen festen Platz in der Machtarithmetik moderner Staatlichkeit zu. Die dem Ausnahmezustand attestierte Nähe zur Souveränität der Regierung leistet jedoch zu einem vertieften Verständnis seiner Anwendung in repräsentativen Demokratien keinen nennenswerten Beitrag. Schmitts dezisionistische Perspektive, die aus seiner ablehnenden Haltung der liberalen Demokratie gegenüber herrührt, verortet die kommissarische Diktatur in der Exekutive und setzt diese mit dem Souverän gleich. Damit geht Schmitts Theorie an der Verfassungsnorm repräsentativer Demokratien vorbei. Denn nicht die Regierung, sondern die Gesamtheit der Bevölkerung ist souverän, was etwa John Stuart Mill so formuliert:
"Repräsentativverfassung bedeutet, dass das Volk als Ganzes oder doch zu einem beträchtlichen Teil durch periodisch gewählte Vertreter die in jedem Verfassungssystem notwendige oberste Kontrollgewalt ausübt. Diese oberste Gewalt muss ungeteilt in den Händen des Volkes liegen. Es muss jede Regierungshandlung nach Belieben kontrollieren können. [] Verfassungsregeln werden eingehalten und funktionieren in der Praxis nur, solange sie im Rahmen der Verfassung derjenigen Macht die Herrschaft sichern, die auch in der Verfassungswirklichkeit die stärkste ist. Diese Macht ist die Macht des Volkes." (Mill 1861: 86)
Dem souveränen Volk gegenüber ist die Exekutive - als von eben diesem Souverän (vgl. klassisch Bodin 1583: 122, 213 ; Jellinek 1960: 481f. ) beauftragter und legitimierter Agent - begründungspflichtig. Für eine solche, demokratisch wie rechtlich eingehegte Beziehung von Souverän und Exekutive ist diese Konstellation folgenreich: Aus dem Primat der Begründung entsteht eine aktiv eingebundene politische Öffentlichkeit (vgl. Habermas 1981, 1992), die sich als Raum rechtfertigender Plausibilisierung konstituiert. In diesem Raum erfolgt eine permanente Artikulation von und Auseinandersetzung mit politischen Belangen.
Der Ausnahmezustand, eine kriseninduzierte Expansion der Exekutivkompetenzen unter Inkaufnahme von Normsuspendierungen (vgl. Lemke 2012a: 308; Förster/Lemke 2015; Ferejohn/Pasquino 2006; Manin 2015), verändert in der Regierungspraxis das Macht- und Kompetenzgefüge zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer, also zwischen Souverän und Exekutive, zugunsten des Auftragnehmers. Da der Exekutive ein Mehr an Macht zugestanden wird, was gleichzeitig mit einem Weniger an Kontroll- und Freiheitsrechten auf Seiten des Souveräns einhergeht, entsteht, parallel zur Erklärung des Ausnahmezustandes und wegen der damit einhergehenden Verschiebung des Machtgefüges, ein erhöhter Plausibilisierungsdruck. Die Regierung, die als Verfassungsorgan über die Ausrufung eines Ausnahmezustandes entscheidet, muss ihre Entscheidung öffentlich nachvollziehbar und legitim erscheinen lassen. Trifft sie solche Entscheidungen, werfen diese eine Vielzahl von Fragen auf: Wie weit kann und darf eine demokratisch legitimierte Regierung gehen, um sich selbst und die Verfassungsordnung zu erhalten (vgl. Friedrich 1961; Lemke 2013: 185f.)? Wie ist die Existenz von Phasen außergewöhnlicher Exekutivkompetenzen jenseits geltender demokratischer Verfassungsnormen, noch dazu unter Umgehung legislativer Institutionen, plausibilisierbar? Welche demokratische Qualität ist einer Regierung beizumessen, die sich in ihrer Praxis zunehmend dem Exzeptionellen (vgl. Neal 2010) zuwendet? Diesen für das Selbstverständnis repräsentativer Demokratien als Rechtsstaaten zentralen Grenzfragen geht diese Studie nach.
1.1 Gegenwartsdiagnose
Wir reden immer häufiger über den Ausnahmezustand. Seit seinem erstmaligen Auftreten im deutschsprachigen Raum 1822 - zumindest soweit dieser durch retrodigitalisierte Literaturbeständen von Google erfasst worden ist - ist ein linearer Anstieg seiner Verwendung zu verzeichnen:
Dieser Befund ist keineswegs bloßer Artefakt deutschsprachiger Literatur. Im englischen Korpus des Google Books Project findet sich folgende Frequenz zum Trigramm State of emergency, die erst gut hundert Jahre nach dem erstmaligen Auftreten des deutschen Unigramms Ausnahmezustand - nämlich im Jahr 1925 - einsetzt :
Und so sieht der Befund für Frankreich aus, wo der état d'exception erstmalig 1788 auftritt und markante Spuren rund um die Zeit des Algerienkrieges hinterlassen hat:
Es gab und gibt offenbar viel über den Ausnahmezustand zu besprechen. Wie aber sind die Kontextbedingungen beschaffen, durch die moderne repräsentative Demokratien offenbar so sehr unter Druck gesetzt werden, dass das Exzeptionelle in zunehmendem Maße Einzug in die alltägliche Regierungspraxis hält? Obwohl die Instrumentarien zur Durchsetzung von Recht und Sicherheit in Händen der Regierungen beständig technisch verbessert und ausdifferenziert werden, ändert sich nichts daran, dass die Welt zunehmend unregierbar, instabiler und unsicherer zu werden scheint. Trotz der Expansion der Fähigkeiten zur Krisenintervention nehmen die Potenzialität der Krisen und die Bereitschaft zum Regieren im Ausnahmezustand zu. Diese Dauerdynamiken (Herfried Münkler) des frühen 21. Jahrhunderts sind sozialwissenschaftlich breit diskutiert worden. Während Hartmut Rosa (2005) den Aspekt der ständigen Beschleunigung als zentrales Merkmal der Gegenwart hervorgehoben hat, ist es bei Pierre Bourdieu die primär sozial verstandene, sich gleichwohl aber politisch destabilisierend auswirkende Prekarität: "La précarité est aujourd'hui partout" (Bourdieu 1998: 95) - so lautete der Titel eines Vortrages, in dem er eine Gegenwart voll von Unsicherheit, Fragilität, Verletzlichkeit und Instabilität skizziert. Nimmt man noch stärker politikwissenschaftlich akzentuierte Diagnosen hinzu, dann entsteht ein komplexes Mosaik, das die Welt als einen verworrenen, überkomplexen, als einen bedrohlichen Ort erscheinen lässt. Selbst demokratische Standards, wie etwa Partizipations- oder Freiheitsrechte werden, so scheint es, immer weiter zu Gunsten e…


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