... der schrankenlosesten Willkür ausgeliefert

... der schrankenlosesten Willkür ausgeliefert

Einband:
Fester Einband
EAN:
9783593507026
Untertitel:
Häftlinge der frühen Konzentrationslager 1933-1936/37
Genre:
20. Jahrhundert (bis 1945)
Herausgeber:
Campus
Anzahl Seiten:
459
Erscheinungsdatum:
10.07.2017
ISBN:
978-3-593-50702-6

Schon bald nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 verhafteten die Nationalsozialisten Tausende Gegner. Bis Ende des Jahres wurden mindestens 100 000 Menschen in Konzentrationslagern und "Schutzhaftabteilungen " eingesperrt. Rechtsgrundlage war die "Verordnung zum Schutz von Volk und Staat" vom 28. Februar 1933. Die Lager dienten zur Demütigung und Ausschaltung der Opposition, zur Einschüchterung der Bevölkerung und damit zur Sicherung des NS-Regimes. Dieser Band nimmt erstmals systematisch die wichtigsten Häftlingsgruppen der Konzentrationslager im Zeitraum von 1933 bis 1936/37 in den Blick, darunter Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Juden, Zeugen Jehovas, Homosexuelle und "Asoziale". Die Beiträge fragen nach den Arrest- und Entlassungspraxen, den Haftbedingungen und -erfahrungen sowie nach den Strategien der Selbstbehauptung und des Widerstands.

»Für Forscherinnen und Forscher gibt es noch viel zu tun. Wenn diese sich in Zukunft einen Überblick über die Verfolgungspraxis einzelner Häftlingsgruppen verschaffen wollen, werden sie zu diesem Buch greifen.« Andrea Rudorff, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 18.04.2018

Autorentext
Jörg Osterloh, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main. Kim Wünschmann, Dr. phil., ist DAAD-Fachlektorin am Historischen Seminar der Universität Sussex.

Leseprobe
Gefangen im Terror des Nationalsozialismus Einführung in die Geschichte der Häftlinge der frühen Konzentrationslager 1933 bis 1936/37 Jörg Osterloh, Kim Wünschmann Die Männer stehen in zwei Reihen auf dem gepflasterten Hof vor einem Backsteingebäude. Ihre Arme hängen locker am Körper herab, ihr Blick geht in verschiedene Richtungen. Mancher hat einen Fuß etwas vorgestellt, als wolle er aus der Reihe heraustreten. Die Männer sind jüngeren und mittleren Alters. Nach ihrer Kleidung zu urteilen, gehören die meisten der Arbeiterklasse an. Einige wenige tragen Anzüge, andere nur Hemden oder Pullover und zum Teil wadenlange Knickerbocker. Das Schuhwerk besteht teils aus Stiefeln, teils aus Halbschuhen; Mützen, Hüte, auch unbedeckte Köpfe sind zu sehen. Kurzum: Eine Ansammlung von Individuen steht hier einem Uniformierten gegenüber, der einen Papierblock oder eine Zettelsammlung in Händen hält. Die Schwarzweißfotografie, die diesem Sammelband als Titelbild dient, lässt sich ohne weitere Erläuterung nicht als Aufnahme aus einem nationalsozialistischen Konzentrationslager erkennen. Sie widerspricht dem gängigen Bild der Lager, das geprägt ist durch eine Ikonographie der Baracken, Wachtürme und des Stacheldrahts - Kulissen für das Leiden äußerlich kaum zu unterscheidender Häftlinge, die oft als anonyme Masse schwacher, ausgemergelter oder sterbender Gestalten dargestellt werden. Statt der gestreiften Uniformen mit den verschiedenfarbigen "Winkel"-Abzeichen, die ab 1937/38 standardmäßig zur Identifikation der unterschiedlichen Gefangenengruppen in den Konzentrationslagern benutzt wurden, tragen die Männer auf dem Titelbild Zivilkleidung. Ihre Köpfe sind nicht kahlgeschoren, sondern von unterschiedlich dichtem Haar bedeckt. Die Abgebildeten sind klar voneinander zu unterscheiden und sollten vermutlich sogar wiedererkannt werden können, denn bei der Aufnahme handelt es sich um eine Propagandafotografie aus dem von der SA betriebenen Konzentrationslager Oranienburg. Im Frühjahr 1934 erschien das Bild in verschiedenen Zeitungen und in dem vom Oranienburger Lagerkommandanten Werner Schäfer verfassten Anti-Braunbuch über das erste deutsche Konzentrationslager, mit dem das NS-Regime die zahlreichen den frühen Terror anprangernden Berichte und Gerüchte im In- und Ausland zu entkräften suchte. Wie sich der Bildunterschrift des Fotos, das beispielsweise die Deutsche Zeitung in ihrer Ausgabe vom 20. März 1934 abdruckte, entnehmen ließ, waren die Männer zwecks "Einteilens zum Arbeitskommando" angetreten. Sie standen stellvertretend für die "bunte Gesellschaft" von Gefangenen, die von der SA-Standarte 208 in Oranienburg eingesperrt wurde. Neben "kommunistischen Radauhelden", so die Zeitung in der Fortsetzung des Berichts am folgenden Tag, befänden sich unter den Lagerinsassen auch "Systemgrößen" wie ein ehemaliger SPD-Bürgermeister aus dem Kreis Niederbarnim nördlich von Berlin, in dem auch das Lager selbst lag. Das Fotodokument vom Appell in Oranienburg kann wegen seiner reichsweiten Verbreitung und zeitgenössischen wie auch späteren erinnerungsgeschichtlichen Verwendung als ein Sinnbild für die Geschichte der Häftlinge in den frühen Konzentrationslagern gelten. Es zeigt, wie sehr diese Geschichte von Improvisation geprägt war, wie die KZ-Haft öffentlich inszeniert wurde und dass sie in erster Linie Männer traf. Um die Gewalt zu verharmlosen, sollte das offizielle Bild der Konzentrationslager dort ausgeübte traditionelle und gesellschaftlich akzeptierte Riten der Disziplinierung betonen, den mit ihnen verbundenen blanken Terror allerdings verschweigen. Der KZ-Appell imitierte den militärischen Drill, mit dem der Einzelne einübt, sich einem Kollektiv unterzuordnen. Wie das Militär sollte auch das Konzentrationslager als eine "totale Institution" verstanden werden, deren Insassen einem strengen, aber fairen Regime von Zucht und Ordnung unterworfen waren. Was im Lager geschah, war, wie die Deutsche Zeitung erklärte, "sehr schwere Erziehungsarbeit" an "Volksgenossen als Träger[n] einer undeutschen Weltanschauung". Doch was geschah dort wirklich? Propagandafotos wie das Titelbild sind kaum geeignet, den Schrecken, die Brutalität und die Willkür zu dokumentieren, die an den Orten des nationalsozialistischen Terrors herrschten. Sie können aber dazu anregen, genauer zu fragen, wer die Häftlinge der frühen Konzentrationslager waren, aus welchen Gründen sie festgenommen wurden, wie sie die Gewalt von SA und SS erlebten, wie sie ihr widerstehen konnten und wie der Terror gegen sie in der breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Die ersten vierzig sogenannten Schutzhaftgefangenen, überwiegend kommunistische Gegner des NS-Regimes, trafen am 21. März 1933 im frühen Konzentrationslager Oranienburg ein, das die SA auf dem Gelände einer ehemaligen Brauerei inmitten der brandenburgischen Stadt eingerichtet hatte. Die Gebäude waren für eine adäquate Unterbringung von bald Hunderten von Gefangenen nicht geeignet. Es mangelte an ausreichenden Verpflegungsmöglichkeiten, und die hygienischen Bedingungen waren gänzlich ungenügend. Die kalten und feuchten Keller, in denen die Häftlinge zunächst auf Stroh nächtigen mussten, gefährdeten die Gesundheit. Ungewissheit über die Dauer der Haft und die Sorge um Familie, Bekannte sowie (noch auf freiem Fuß befindliche) politisch Gleichgesinnte konnten zermürbend sein. Die SA misshandelte und folterte und errichtete so ein menschenunwürdiges Regime, um die Häftlinge einzuschüchtern und ihren Widerstandswillen zu brechen. Bis zur Schließung des Lagers im Juli 1934 wurden insgesamt rund 3.000 Personen in Oranienburg festgehalten. Sechzehn von ihnen wurden in der Haft ermordet oder starben infolge der Misshandlungen. Oranienburg kann wie viele andere der ersten, im Frühjahr 1933 eilig errichteten Konzentrationslager als "Lager der Rache" begriffen werden. In der Endphase der Weimarer Republik waren tätliche Auseinandersetzungen, vor allem zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten, an der Tagesordnung. Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 eskalierte die Gewalt. Besonders die Angehörigen der SA gingen erbittert gegen ihre Feinde aus der sogenannten Kampfzeit vor. Der kommissarische preußische Innenminister Hermann Göring legitimierte die Übergriffe, indem er am 22. Februar die Aufstellung einer "Hilfspolizei" aus "nationalen Verbänden" anordnete, die sich h…


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