Geschenkte Organe?

Geschenkte Organe?

Einband:
Paperback
EAN:
9783593502793
Untertitel:
Ethische und kulturelle Herausforderungen bei der familiären Lebendnierenspende
Genre:
Medizin-Lexika
Autor:
Sabine Wöhlke
Herausgeber:
Campus
Anzahl Seiten:
272
Erscheinungsdatum:
31.08.2015
ISBN:
978-3-593-50279-3

In Deutschland werden jährlich circa 800 Lebendnierenspenden durchgeführt. Trotz der vergleichsweise geringen Anzahl von betroffenen Patienten gilt dieser medizinischen Praxis besondere Aufmerksamkeit: Sie ist rechtlich hoch reguliert, wird ethisch intensiv diskutiert und in der Öffentlichkeit ausschließlich als Erfolgsgeschichte präsentiert. Sabine Wöhlke widmet sich dem komplexen Feld der Lebendnierenspende in Deutschland und öffnet somit die Blackbox familiärer Entscheidungen für die Wissenschaft. Ihre Analyse zeigt, wie Geschlechterrollen, Körperkonzepte und Reziprozität ineinandergreifen und spezifische Muster aufweisen, nach denen eine Entscheidung für (und seltener: gegen) eine Lebendorganspende abläuft. Aus der Perspektive der Betroffenen lassen sich wiederum ethisch relevante Handlungsempfehlungen für die Praxis ableiten.

Autorentext
Sabine Wöhlke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Geschichte in der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen.

Leseprobe
1. Hintergründe und Forschungsfragen

1.1 Der rechtliche Rahmen der Organspende in Deutschland

Im Falle eines akuten oder chronischen Nierenversagens erhalten immer mehr Menschen ein Lebendorgan. Zurzeit warten etwa 11.000 Personen in Deutschland auf eine Organspende, davon rund 8.000 Dialysepatienten auf eine Nierentransplantation (DSO 2013). Dies ist im Vergleich zu anderen chronischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus oder entzündlichen Darmerkrankungen eine geringe Zahl. Daher erstaunt es umso mehr, dass dieser verhältnismäßig kleinen Gruppe von chronisch kranken Patienten eine so viel größere Aufmerksamkeit zuteil wird.
An der Entstehungsgeschichte der POS und LOS lässt sich aufzeigen, wie aus einer medizinischen Praxis im Experimentierstadium ein komple-xer medizinischer Fachbereich entstehen kann. Organtransplantationen (sowohl die POS als auch die LOS) haben sich in den letzten sechs Jahr-zehnten als medizinische Praxis fest etabliert. Herz-, Leber- und Nieren-transplantationen sind zum chirurgischen Routineeingriff geworden. Allerdings wurde bereits lange vor der Etablierung an dieser medizinischen Technik weltweit geforscht, viele Kliniken haben mittlerweile eigene Transplantationszentren (Bickeböller 2000; Schlich 1998).
Aus der rasanten Entwicklung ergibt sich wiederum ein Allokations-problem, dem mithilfe der LOS entgegengewirkt werden soll. So erwächst in der Bevölkerung aufgrund der medizinischen Machbarkeit eine An-spruchshaltung, im Falle eines Organversagens ein Spenderorgan zu be-kommen. Diesem steigenden Bedarf soll die LOS Rechnung tragen (Ritt-ner 2005). Langzeitstudien belegen, dass eine Verwandtenspende besser zu kontrollieren ist (Meier-Kriesche u.a. 2000). Überdies zeigen diese Studien, dass der sogenannte "Outcome" von Lebendtransplantaten besser ist als bei den postmortalen Organen (Thiel 2004). Auch ist eine LOS gerade für junge Menschen und Familien attraktiver als eine POS, weil sie zeitlich planbar ist. Zudem ist die Überlebenszeit eines Organs in einem Körper besser, der zuvor noch nicht dialysiert wurde. Diese Pro-Argumente kennen viele chronisch Kranke und möchten von den genannten Vorteilen profitieren (Meier-Kriesche u.a. 2001). Nicht nur Ärzte, sondern auch viele erkrankte Patienten wollen aus den oben genannten Gründen eher ein lebendgespendetes Organ (Thiel 2004: 22-23; Mossialos u.a. 2008).
Das 1997 verabschiedete Transplantationsgesetz (TPG) sollte für mehr Rechtssicherheit sorgen. Mit ihm ist geregelt, unter welchen Bedingungen in Deutschland eine Organtransplantation möglich ist. Die postmortale Organtransplantation ist demnach nur zulässig, wenn der verstorbene Patient, dem Organe zur Spende entnommen werden sollen, zugestimmt hat. Dies wird mithilfe der "erweiterten Zustimmungslösung" zu Lebzeiten geregelt. Sie besagt, dass eine Person sich freiwillig zur Organspende nach ihrem Tod entschieden haben muss und dass sie ihren Willen zum Beispiel auf einem Organspendeausweis schriftlich geäußert haben sollte (§ 2 (1) TPG; Wagner/Fateh-Moghadam 2005).
Neben der Freiwilligkeit ist eine Feststellung des Hirntodes als To-deskriterium Voraussetzung für eine POS (Lock 2000; Wiesemann 2000). In Deutschland ist eine postmortale Organentnahme nur möglich, wenn zuvor der Hirntod des Patienten festgestellt wurde. Dieser wird definiert "als Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms. Dabei wird durch kontrollierte Be-atmung die Herz- und Kreislauffunktion noch künstlich aufrechterhal-ten". Dieser sensible Aspekt wird unter Experten kontrovers diskutiert. Die Gegner sehen in diesem Kriterium kein "sicheres" Todeskriterium (Schöne-Seifert u.a. 2011; Müller 2010). Umfragen in der Bevölkerung bestätigen, dass diese Todesdefinition eine mögliche Ursache für die ge-ringe aktive Organspendebereitschaft in Deutschland sein könnte (Rey u.a. 2012). Medizinische Laien befürchten, dass im Falle einer intensivmedizinischen Behandlung nicht mehr "alles medizinisch Mögliche" für sie getan wird und sie zu früh für tot erklärt werden, um ihnen Organe zu entnehmen (Keller 2007; Müller-Jung 2007; Siminoff u.a. 2004; Spiegel 49/1993). Andrea Esser kritisiert an der Debatte um eine Äußerungspflicht zur Organspende den Umgang mit den Begrifflichkeiten "Überzeugung" und "Zweifel", die für sie nicht nur verschiedene Gefühle, sondern einen praktischen Unterschied beinhalten (Esser 2012: 427).
Aufgrund des TPG gilt eine Subsidiaritätsregelung, das heißt POS werden LOS vorgezogen. In der Praxis bedeutet dies, dass potenzielle Le-bendorganempfänger zunächst auf die Warteliste für ein postmortales Organ aufgenommen werden müssen. Das Gesetz sieht vor, dass eine LOS nur nachrangig erfolgen soll. Vor dem Hintergrund eines Mangels an postmortalen Organen trifft dies jedoch in jedem Fall zu. Diese Subsidiaritätsregel kann somit vor allem als Ausdruck des Unbehagens gelesen werden, das mit der LOS verbunden ist.
Eine LOS kann nach TPG zwischen nahen Angehörigen (1. oder 2. Grades) oder sich sehr nahe stehenden Freunden durchgeführt werden. Sie ist nur zwischen "einander in besonderer persönlicher Verbundenheit" nahestehenden Personen möglich. Generell kann bei einer LOS nach ver-schiedenen Personengruppen unterschieden werden. Nahe Angehörige umfassen Ehepartner beziehungsweise Lebensgefährten, Eltern, volljährige Kinder, volljährige Geschwister und Großeltern. Bei einem nachweislichen Näheverhältnis können darüber hinaus auch Verwandte dritten Grades, wie Onkel, Tante, Cousin oder Cousine ebenso wie nicht verwandte Freunde spenden. Aus der Perspektive der empfangenden Person handelt es sich um eine Verwandtenspende oder eine Spende von einem Nichtverwandten, wobei diese Gruppe noch einmal unterteilt werden kann in Personen mit und solchen ohne emotionale Bindung. Eine weitere Unterscheidung erfolgt nach gerichteten und nicht gerichteten Spenden. Bei gerichteten Spenden ist der Empfänger bekannt, bei ungerichteten nicht (Lachenmeier 2007). Die ungerichtete Spende (anonyme Spende) ist in Deutschland nach geltendem TPG verboten. Weniger eindeutig erscheint die Möglichkeit der sogenannten Überkreuzlebendspende (Cross-over). Diese Möglichkeit wird in Betracht gezogen, wenn zwischen Ehepartnern ein Spendewunsch vorhanden ist, jedoch eine Blutgruppeninkompatibilität vorliegt. Bei zwei Paaren ist hier jeweils ein Partner eines Paares ein Spender, der andere ein Empfänger. Die im Gesetz geforderte persönliche Verbundenheit besteht hier nur innerhalb der beiden Paare. Allerdings hat das Bundessozialgericht diese Möglichkeit 2003 mit einem Urteil ausgeschlossen, indem es sich auf den Rahmen des TPGs bezog und die direkte persönliche Verbundenheit zwischen Empfänger und Spender verlangt (Riedel 2005). Legitimiert wird die Organentnahme mit dem Nachweis der Selbstbestimmung und der Freiwilligkeit des Spender-Empfänger-Paares. …


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