Im Sog der Katastrophe

Im Sog der Katastrophe

Einband:
Fester Einband
EAN:
9783593502694
Untertitel:
Lateinamerika und der Erste Weltkrieg
Genre:
Regional- und Ländergeschichte
Autor:
Stefan Rinke
Herausgeber:
Campus
Anzahl Seiten:
348
Erscheinungsdatum:
28.02.2015
ISBN:
978-3-593-50269-4

Ein Drama der gesamten Menschheit

Als in den Augusttagen 1914 die Nachricht vom Kriegsausbruch in Europa in Lateinamerika bekannt wurde, sprach man dort von einem »Drama der gesamten Menschheit«, in dem es keine Zuschauer geben könne. Viele Beobachter stimmten darin überein, dass in diesem Sommer eine Epoche endete und eine neue Ära begann. In Lateinamerika, das durch die neuartige Form des Propagandakriegs und die neuen Kommunikationstechnologien direkter als je zuvor in die Ereignisse der »Alten Welt« involviert war, gab der Krieg den Anlass zu emanzipatorischen Bestrebungen, die sich während des Konflikts oder unmittelbar nach Kriegsende bemerkbar machten. Seit längerer Zeit bestehende Konfliktpotenziale verschärften sich durch die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« und mündeten in neue soziale Bewegungen, deren Ausrichtung höchst unterschiedlich war. Die weltumspannende Dimension der Geschichte des »Großen Krieges« wird in diesem Buch aus der Perspektive eines Kontinents analysiert, der nur auf den ersten Blick am Rand der Ereignisse stand, sich aber durch den Flächenbrand in Europa stark veränderte.

»Rinke hat eine beeindruckende Fülle einschlägiger Quellen aus allen Staaten Lateinamerikas erschlossen, ergänzt durch Material aus den USA und Europa. [] So ist ein aufschlussreicher Beitrag zur Geschichte des wichtigsten nichtmilitärischen Schauplatzes des Großen Krieges entstanden.« Jörg Fisch, Historische Zeitschrift, 24.04.2017 »Rinke zeichnet die Entwicklungen [in Südamerika] überzeugend und gut lesbar nach. Zugleich rückt er damit die Probleme eines Kontinents wieder stärker in den Mittelpunkt, der angesichts vielfältiger anderer Konflikte zu Unrecht ein wenig in Vergessenheit geraten ist.« Michael Epkenhans, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.03.2016 »Insgesamt ist Stefan Rinke mit Im Sog der Katastrophe eine gut lesbare und bemerkenswert umfassend recherchierte Studie gelungen, die Lateinamerika in die globalen Zusammenhänge des Ersten Weltkriegs einordnet. Er stellt anschaulich dar, welche Auswirkungen der Erste Weltkrieg auf den Alltag vieler Lateinamerikaner_innen hatte und welche politischen und gesellschaftlichen Änderungen sich daraus ergaben. Das Buch sei daher allen Leser_innen zu empfehlen, die auf der Suche nach Beispielen sind, um den Blick für die Bedeutung des Ersten Weltkriegs außerhalb von Europa und seinen Kolonien zu schärfen.«, Lernen aus der Geschichte »Zusammengefasst führt der kulturwissenschaftliche Zugang in Rinkes Buch zu neuen und aufschlussreichen Ergebnissen, was die Rolle Lateinamerikas im Ersten Weltkrieg und vor allem auch die Frage nach der Bedeutung das Krieges für Lateinamerika angeht.«, H-Soz-u-Kult, 13.10.2015

Autorentext
Stefan Rinke ist Professor für die Geschichte Lateinamerikas an der FU Berlin und Einstein Research Fellow. Seit 2014 ist er Präsident des Verbands europäischer Lateinamerika-Historiker (AHILA).

Leseprobe
Vorwort

Die Entstehungsgeschichte dieses Buches spiegelt in gewisser Hinsicht die geschichtswissenschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte wider. Als ich Anfang der 1990er-Jahre begann, mich im Rahmen meiner Doktorarbeit mit transnationaler Geschichte zu beschäftigen, war dies noch ein neues Feld. Mittlerweile ist die transnationale Perspektive in der Zunft etabliert und hat zahlreiche Theoretiker und Anwender beschäftigt. Von deren Arbeiten habe ich über die Jahre viel profitiert, und meine ursprüngliche Projektidee zu Lateinamerika im Ersten Weltkrieg hat sich erheblich verändert. Das Ergebnis dieses Prozesses ist das vorliegende Buch, das von lebhaften Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen sowie Studierenden sehr profitiert hat.
Der Begriff des globalen Bewusstseins spielt in diesem Buch eine wichtige Rolle. Damit folge ich einem Ansatz unserer DFG-Forschergruppe "Akteure der kulturellen Globalisierung". Ein weiterer anregender Kontext an der Freien Universität ergab sich durch das Projekt "1914-1918-online". Die Möglichkeit, mein Forschungsprojekt in Buchform abzuschließen, erhielt ich durch ein Research Fellowship der Einstein-Stiftung, das ich am Ibero-Amerikanischen Institut wahrnehmen konnte. Beiden Institutionen möchte ich besonders danken.
Mein großer Dank gilt denen, die mich bei der Fertigstellung dieses Buchs direkt unterstützt haben, insbesondere Karina Kriegesmann. Sehr dankbar bin ich meinem akademischen Lehrer und Freund Hans-Joachim König, der mich vor vielen Jahren davon abgehalten hat, meiner Dissertation noch ein Weltkriegskapitel hinzuzufügen. Meiner Familie, die mich oft vermisst hat, wenn ich mich in lateinamerikanischen Bibliotheken und Archiven aufhielt, danke ich von Herzen für das Verständnis und die liebevolle Unterstützung.

Berlin, im August 2014, Stefan Rinke


Einleitung
Am Hafen und auf den Märkten ist es ungewohnt still. Schon seit Tagen stehen die Theater und Kinos leer. Dafür ist es vor den Niederlassungen der großen Zeitungen umso lauter, wo sich Menschenmengen schon im frühesten Morgengrauen zusammenfinden, um die neuesten Nachrichten zu hören. Wenn die Sirene ertönt, die das Eintreffen wichtiger neuer Kabelnachrichten ankündigt, erheben sich die spontanen Redner, die den Krieg verdammen oder für eine der beiden Seiten Partei ergreifen. Die Straßenbahnen kommen nicht mehr durch. Gerüchte flirren durch die Luft. Es heißt, der österreichische Kaiser sei einem Attentat zum Opfer gefallen. Vor den geschlossenen Toren der Bankgebäude schimpfen frustrierte Kunden lautstark und rotten sich zusammen. Wie soll man die explodierenden Preise bezahlen, wenn man nicht mal an sein Geld kommt? Noch dazu, wenn die Arbeitsstelle plötzlich so unsicher ist wie nie zuvor. Überall rotten sich Arbeitslose aus den Unterschichten zusammen und täglich kommen mehr aus den Provinzen, wo die großen ausländischen Bergbau- und Plantagenunternehmen Tausende von einem Tag auf den anderen entlassen haben.
Derweil marschieren uniformierte Seeleute und Reservisten verschiedener Länder in Formation durch die Straßen. Sie wollen sich in ihren Konsulaten für den Militärdienst melden. Ein paar Straßen weiter bewegen sich die Marseillaise und "God save the Queen" singende Demonstrationszüge auf die diplomatischen Vertretungen der Alliierten zu, um ihre Sympathien kundzutun. Fast zeitgleich demonstrieren Sozialisten lautstark für die Wiederherstellung des Friedens. Auf ihre eigene Weise praktizieren dies die Gläubigen, die sich den Friedenswallfahrten anschließen. In den Ministerien treffen sich Politiker, Unternehmer und Banker und beraten, was nun zu tun ist, ohne eine Antwort zu finden. Überall herrscht nervöse Unruhe, und die Polizei trifft Vorkehrungen, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Es ist, als warteten alle nur darauf, dass das Gewitter, dessen Donnergrollen man in der Ferne zu hören glaubt, sich vor Ort als Blitz entlädt und ungeahnte Verwüstungen anrichtet.
Laut der zeitgenössischen Presse spielten sich solche oder ähnliche Szenen Anfang August 1914 mehr oder weniger intensiv landauf, landab in den Städten Lateinamerikas ab. Als die Nachricht vom Kriegsausbruch in Eu-ropa bekannt wurde, sprach man dort von einer Katastrophe, die die Welt aufgrund der engen globalen Verflechtungen mit einer Krise bislang unge-kannten Ausmaßes konfrontiere. Der Kommentator der Zeitung La Nación in Buenos Aires, einer der führenden Zeitungen Lateinamerikas, brachte dies stellvertretend für eine Vielzahl ähnlich lautender Darlegungen bereits am 2. August 1914 auf den Punkt:
"Wir wohnen einem der größten Geschehnisse und einer der größten Katastro-phen der Menschheitsgeschichte bei. Der seit Langem unvermeidliche europäische Krieg stürzt die Welt in eine Krise, die sie so noch nie gesehen hat. In der Tat bezahlt unsere Zivilisation, die die Entfernungen und die Zeit unbestreitbar zum Wohle für die Produktivkraft der Spezies beherrscht, br…


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