Macht ohne Grenzen

Macht ohne Grenzen

Einband:
Paperback
EAN:
9783593501642
Untertitel:
Herrschaft und Terror im Stalinismus
Genre:
20. Jahrhundert (bis 1945)
Herausgeber:
Campus
Anzahl Seiten:
223
Erscheinungsdatum:
31.10.2014
ISBN:
978-3-593-50164-2

Im Schatten des Kreml

Der Stalinismus gilt heute als Synonym für die »Herrschaft des Terrors« im 20. Jahrhundert. Doch wie kam es zwischen 1927 und 1953 in der UdSSR zu den berüchtigten Gewaltexzessen? Weshalb eskalierte der Terror gerade in der Ära Stalins und welche Formen nahm er damals an? Wie begründeten die Täter ihr Handeln? Und wieso spielt die Erinnerung an die Schrecken jener Zeit im heutigen Russland keine Rolle mehr?
Führende Experten für die Geschichte des Stalinismus geben Antworten auf diese Fragen. Der Band liefert somit ein pointiertes Bild stalinistischer Herrschaft und ihrer Folgen. Dabei wird deutlich: Die Geschichte des Stalinismus lässt sich nur verstehen, wenn man Stalin und die Personen, die in seiner unmittelbaren Umgebung lebten und arbeiteten, in den Blick nimmt. Denn hier lagen die Wurzeln des Terrors.

Mit Beiträgen von Jörg Baberowski, Lorenz Erren, Robert Kindler, Gerd Koenen, Nikita Petrow, David Shearer, Fabian Thunemann, Krisztián Ungváry und Nicolas Werth.

Autorentext
Jörg Baberowski ist Professor für Geschichte Osteuropas an der HU Berlin. Er gehört zu den international renommierten Experten für die Geschichte des Stalinismus. Robert Kindler, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas an der HU Berlin.

Leseprobe
Der Stalinismus war eine Herrschaft des Terrors. Nicht auf Anerkennung und freiwilliger Abrichtung, sondern auf Furcht und Zwang beruhte die Macht Stalins und seiner Helfer. Denn wäre der Stalinismus eine Diktatur von Mitläufern und willfährigen Erfüllungsgehilfen gewesen, hätte er auf Folter und Mord verzichten können. Millionen wurden deportiert, in Lager gesperrt und getötet, Millionen verhungerten. Niemand konnte im Vorhinein wissen, was geschehen würde, Täter konnten zu Opfern und Opfer zu Tätern werden. Wie eine Naturkatastrophe gigantischen Ausmaßes wälzte sich die Lawine des Terrors und der Gewalt über die Gesellschaften der Sowjetunion. Macht hat, wer sich seiner selbst auch dann sicher sein kann, wenn er schläft. Woher aber soll ein despotischer Herrscher wissen, dass die vielen die Autorität der wenigen auch anerkennen? Denn es liegt in der Natur despotischer Herrschaft, dass der Diktator nur erfährt, was ihn nicht um den Schlaf bringt. Er weiß nicht, was die Untertanen wirklich denken, und was geschehen würde, wenn er Schwäche zeigte. Die Allmacht ist zugleich die größte Schwäche der Despotie. Ohne die Erzeugung von Furcht und Schrecken könnte sie nicht überleben. Deshalb greifen Herrscher, die wenig wissen, aber wollen, dass ihre Untertanen unter allen Umständen gehorchen, auf willkürliche Gewalt zurück, um zu erzwingen, was nicht von selbst geschieht. Macht braucht Widerstand. Nur wenn sie Widerstand überwindet, kann sie Macht sein. Wären alle tot, wäre es um die Macht geschehen. "Es ist die Grenze der Macht", schreibt Elias Canetti, "daß sie keine Toten wirklich wieder zum Leben zurückholen kann; aber im lange hingehaltenen Akt der Gnade kommt sich der Machthaber oft so vor, als hätte er diese Grenze überschritten." Deshalb spielen Herrscher, die ihrer Macht nicht sicher sein können, mit der Gewalt und simulieren Widerstand, um ihn zu bezwingen. Sie richten Gefolgsleute hin und beobachten, was ihre Gefährten tun; sie zwingen Menschen, zu gestehen, was sie nicht begangen haben, um herauszufinden, ob sich Widerspruch noch regt; und sie verbreiten Furcht und Schrecken, strafen ohne Anlass und Prinzip. Der Diktator braucht den Terror auch um seiner selbst willen, weil er ihm die Gewissheit gibt, dass er tun kann, wonach ihm der Sinn steht. Macht braucht Überlebende, die gezeichnet sind, oder wenigstens die Hoffnung haben, dass nicht sie es sind, die sterben müssen. Deshalb ist der Terror vor allem eine Mitteilung an jene, die nicht sterben. Auf die Überlebenden und ihre Hoffnungen kommt es an. Mit ihnen spielt der Mächtige nach Belieben wie die Katze mit der Maus. Im Angesicht des Terrors verlor der Einzelne sein Gesicht. Alle sozialen Bindungen, die Menschen vor Schicksalsschlägen schützen, zerfielen, weil das Leben nur noch eine Antwort auf die Gewalt war. Denn der Terror verschonte niemanden. Er wütete in der Partei, im Militär und in der Staatsverwaltung, in Fabriken und Kolchosen. Jeder konnte jederzeit ein Opfer der Gewalt werden, Kommunisten oder Wissenschaftler ebenso wie Nomaden oder obdachlose Bettler. Manche gerieten ins Visier des Regimes, weil ihre soziale oder ethnische Herkunft sie zu "Feinden" machte, andere wurden inhaftiert oder getötet, weil das Regime ein Exempel der Macht statuieren wollte und nach Opfern rief. Doch weshalb richtete sich der Terror auch gegen Mitläufer, Kommunisten und Täter? Warum verschonte er weder Anhänger noch Gegner des Regimes und warum waren Kommunisten seine ersten Opfer? Was wussten Stalin und die Mitglieder des Führungszirkels über ihre Möglichkeiten, und welchen Gebrauch machten sie von diesem Wissen? Warum töteten sie loyale Kommunisten und ließen Millionen Menschen verhungern? Folgte der Terror einer wohldurchdachten Strategie oder war er nur eine Reaktion auf Situationen, die in der Führung als Krise oder Bedrohung empfunden wurden? Wie konnte es geschehen, dass sich niemand der selbstzerstörerischen Gewalt in den Weg stellte und am Ende auch die Vollstrecker im Sog des Terrors untergingen? Wie empfanden die Überlebenden, was ihnen angetan worden war und welchen Sinn gaben sie dem Erlebten? Was geschieht mit einer Gesellschaft, die ihren inneren Zusammenhalt verliert, weil der Terror alle Bindungen zerstört? Das sind einige jener Fragen, die in diesem Buch zur Sprache kommen. Es versteht sich von selbst, dass die Antworten auf diese Fragen unterschiedlich ausfallen. Nur in einem sind sich die meisten Historiker einig: Die Gewalt des Regimes kam aus der Überforderung, aus dem Unvermögen, Ansprüche und Möglichkeiten in eine Balance zu bringen. Es erzeugte Krisen und Chaos, die es mit dem Einsatz von Gewalt überwinden wollte. Die Bolschewiki versprachen das Paradies, aber sie produzierten nichts als Elend und Unordnung, weil sich nicht verwirklichen ließ, wonach ihnen der Sinn stand und weil es ihnen nicht gelang, die Sowjetunion in einen modernen Industriestaat zu verwandeln. Die Partei arbeitete an der Vollendung des Menschenglücks. Deshalb konnte sie keine Fehler machen. Eine andere Interpretation der Wirklichkeit ließen die Bolschewiki nicht zu. Warum aber gelang nicht, was vom Lauf der Geschichte schon vorgezeichnet war? Darauf gab das Regime eine klare Antwort: weil Feinde und Saboteure an der Destruktion der Sowjetunion arbeiteten; weil ethnische Minoritäten und ausländische Kommunisten im Sold des Auslandes standen; weil Angehörige der alten Oberschicht und der verbotenen Parteien, Händler, Kulaken und Priester ihre Niederlage nicht verwinden konnten und Rache nehmen wollten. Es kam deshalb darauf an, Feinde nicht nur zu identifizieren, sondern auch zu bestrafen. Die Bedrohung durch Feinde war eine plausible Erklärung für das Versagen des Regimes, und je größer der Schaden war, den es anrichtete, desto größer war die Zahl der Feinde, die vernichtet werden mussten. Strafe aber, die an Schuld und Sühne nicht mehr gebunden ist, büßt ihre moralische Sanktionsmacht ein. Sie ist Schicksal. Aus der Perspektive Stalins aber erfüllte der Terror dreierlei Funktionen: Er lud die Verantwortung für Missstände auf den Schultern von "Feinden" ab; er gab der Bevölkerung die Möglichkeit, Feinde aufzuspüren und sich an ihnen für ihr Elend zu rächen; und er diente dem Regime als Machttechnik. Warte nur, bis auch Du für Dein Versagen bestraft werden wirst! Diese Drohung stand unausgesprochen im Raum; und jeder, der bei Verstand war, versuchte Täter zu werden, um nicht Opfer zu sein. Aber der Terror war nicht nur eine Technik, eine rational geplante und ins Werk gesetzte Strategie, um die Gesellschaft einzuschüch…


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