Kontrollgewinn Kontrollverlust

Kontrollgewinn  Kontrollverlust

Einband:
Paperback
EAN:
9783593500737
Untertitel:
Die Geschichte des Schlafs in der Moderne
Genre:
Kulturgeschichte
Herausgeber:
Campus
Anzahl Seiten:
231
Erscheinungsdatum:
30.04.2014
ISBN:
978-3-593-50073-7

Erste interdisziplinäre Geschichte des Schlafs

Der Mensch verschläft ein Drittel seines Lebens. Doch wie schläft man »richtig«? Dieser Band präsentiert erstmals eine Geschichte des Schlafs, die die Perspektiven von Historikern, Literaturwissenschaftlern, Anthropologen und Medizinern zusammenführt. Die Autorinnen und Autoren diskutieren, wie sich Wahrnehmung, Bewertung und Organisation des Schlafs vom späten 18. bis zum 20. Jahrhundert verändert haben. Sie zeigen, auf welche Weise moderne Gesellschaften versuchten, Kontrolle über den Schlaf zu gewinnen und ihn in die »rationalisierte« Welt einzufügen. Sie skizzieren den Schlaf aber auch als eine Zeit, die sich der Kontrolle und Rationalisierung immer wieder entzog und so als Bastion gegen Ansprüche und Zumutungen der Moderne verstanden werden kann.

"Die Historikerin Hannah Ahlheim hat Fachkollegen, Mediziner, Philosophen und Literaturwissenschaftler auf Spurensuche in Sachen Schlaf geschickt. In ihrem zunächst unscheinbaren Band, verstecken sich kostbare Erkenntnisse.", Deutschlandradio Kultur, 28.08.2014

Vorwort
Erste interdisziplinäre Geschichte des Schlafs

Autorentext
Hannah Ahlheim, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Göttingen.

Leseprobe
Einleitung: Die Ambivalenz des Schlafens und die Geschichte der Moderne Hannah Ahlheim "Es sieht so aus, als hätte die Welt auch uns Erwachsene nicht ganz, nur zu zwei Dritteilen; zu einem Drittel sind wir überhaupt ungeboren. Jedes Erwachen am Morgen ist dann wie eine neue Geburt." Mit diesen Worten beschrieb Sigmund Freud vor fast 100 Jahren unseren allnächtlichen Schlaf. Die einfache Tatsache, dass der Mensch ein Drittel seiner Lebenszeit verschläft, gehört auf die erste Seite nahezu jeder Veröffentlichung zum Schlaf. Doch in Freuds vielzitiertem Satz steckt mehr als die Feststellung, dass jeder Mensch viel Zeit mit Schlafen verbringt. Im Schlaf, das legen Freuds Worte nahe, verlässt der Mensch für einige Stunden die Welt des Wachseins und des Erwachsenseins. Er ist in diesen Stunden so gut wie "ungeboren", in einem Zustand also, den jeder Mensch erfahren hat und der sich doch dem Bewusstsein und der Erinnerung entzieht. Nicht umsonst ist Hypnos, der Schlaf, in der griechischen Mythologie der Zwillingsbruder des Todes. Der Schlaf ist aber nicht nur für den wachenden Geist unzugänglich und unfassbar, im Schlaf brechen sich auch Ängste, Wünsche und Irratio-nalität Bahn, die der Mensch nicht beherrschen kann. Gespenster nehmen Gestalt an, Phantasien werden erfahrbar und fühlbar, der Traum scheint Wege zu öffnen in innere Welten, die dem wachen Individuum nicht zu-gänglich sind. Die (Angst-)Phantasie, dass der Mensch im Schlaf und Traum die Herrschaft über sein Inneres verlieren könnte und damit an-greifbar wird, begeistert auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Millio-nenpublikum: Der Protagonist des Hollywood Blockbusters Inception war 2010 im Auftrag des US-Militärs unterwegs, um Menschen durch heim-liches gemeinsames Träumen ihre Geheimnisse zu entreißen und ihnen Gedanken "einzupflanzen", die auch ihr waches Handeln bestimmen sol-len. Entzieht sich also ein Drittel unseres Lebens der rationalen Wahr-nehmung, verliert der Mensch zwangsläufig allnächtlich seine Bewusstheit, seine Entscheidungsgewalt? Der enge Zusammenhang zwischen dem Schlaf und der Erfahrung des Kontrollverlusts wird jedoch nicht nur während des Schlafens selbst erkennbar, wenn das Bewusstsein erlischt. Vielmehr kann der Mensch auch den Vorgang des Einschlafens, Durchschlafens und Ausschlafens nicht wirklich steuern. "Wir können den Schlaf nicht direkt kontrollieren", das stellte der an der Universität Tübingen beschäftigte Neurowissenschaftler und Schlafforscher Jan Born in einem Interview im Jahr 2013 fest. Schlaf lasse sich nicht erzwingen, er funktioniere nach seinen eigenen Regeln, die die Wissenschaft noch immer nicht entdeckt und verstanden habe. Man könne daher letztlich nur versuchen, empfahl Born, dem Schlaf gegenüber "ein gelassenes Verhältnis zu entwickeln" . So ein "gelassenes Verhältnis" zum Schlaf scheint allerdings nicht ein-fach zu haben zu sein. In westlichen Industriegesellschaften ist die Angst vor einem Verlust und den Störungen des Schlafes omnipräsent. Experten schreiben über die "unausgeschlafene" oder "schlaflose Gesellschaft" , Schlafstörungen gelten als ernstzunehmende "Zivilisationskrankheit" , die große Teile der Bevölkerung angreift; die Schlafmedizin hat sich als eigenständiges Feld etabliert. Jedes Jahr erscheinen unzählige Feuilletonartikel, Sonderhefte und Sonderbeilagen zum Thema Schlaf, tausende Ratgeber, Internetseiten, Fernseh- und Radiosendungen geben Tipps, wie man "richtig" und "gut" schläft. Verschiedenste Hilfsmittel sollen helfen, den "gesunden" Schlaf wieder zu finden, Therapien, Medikamente, teure Matratzen, Kopfkissen und Schlafzimmereinrichtungen versprechen den "gesunden Schlaf", und Handy-Apps sollen den perfekten Zeitpunkt fürs Aufwachen errechnen. "Richtig" schlafen ist eine wichtige Aufgabe im gesellschaftlichen Alltag, der der Einzelne viel Energie widmen kann - dabei wissen wir noch nicht einmal genau, warum wir eigentlich überhaupt schlafen, gab der Schweizer Schlafexperte Alexander Borbély noch 2005 zu. Schlafen scheint also in vielerlei Hinsicht einen Verlust von Kontrolle mit sich zu bringen, es nimmt den Menschen regelmäßig "aus der Welt" und beraubt ihn seines Bewusstseins. Gleichzeitig ist er aber für jedes Le-bewesen ein lebensnotwendiges, ganz konkretes und sehr "weltliches" Be-dürfnis, das das Alltagsleben prägt. Jeder Mensch braucht Schlaf, und jede Gesellschaft muss dem Einzelnen Zeit und Raum für seinen Schlaf zur Verfügung stellen. An der Schlafkultur einer Gesellschaft hängen dabei nicht nur das Lebensglück und die Gesundheit des Einzelnen, Schlaf ist auch wichtige "Ressource". "Die Bedeutung des Schlafs" sei in unserer 24-Stunden-Gesellschaft "unterschätzt", warnte im Jahr 2000 etwa der Schlafforscher Jürgen Zulley auf einem Symposium zum Thema "Schlaf und Ökonomie". Die "chronologischen Bedürfnisse" des Menschen, hält er fest, müssten "sorgfältig eingeplant" werden in die Abläufe des Alltags, sonst seien "Gesundheit, Lebensfähigkeit und Leistungsfähigkeit beeinträchtigt". Mit der Erfahrung des Verlusts von Kontrolle geht damit auch der Wunsch nach einem kontrollierten Schlaf einher, der die Bedürfnisse des Einzelnen erfüllt und dennoch "einplanbar" ist in den Ablauf des sozialen und ökonomischen Lebens. Am schlafenden Menschen werden Organi-sationsmuster und Machtverhältnisse verhandelt, die für das Funktionieren einer Gesellschaft entscheidend sind, und bei der Beschäftigung mit dem Schlaf geraten Grundstrukturen und Grundkonflikte menschlichen Zusammenlebens in den Blick. Der Ort und die Zeit, die dem Schlaf im Alltag zugewiesen werden, geben etwa Aufschluss darüber, welche Verfügungsgewalt der Einzelne hat über seine Bedürfnisse, seine Träume, seine Gesundheit und seine Arbeitskraft. Die Debatten, die Experten, Wissenschaftler, Ärzte, Theologen, Politiker und "Jedermann" um den Schlaf führen, zeigen, welche Vorstellungen vom Menschen, von seinem Wesen, seinem Körper, seiner Seele, seinem Gehirn, seinem Bewusstsein und seinem Willen vorherrschen. Während der Schlaf lange vor allem Gegenstand der medizinischen, psychiatrischen und biologischen Forschung war, haben in den letzten Jahren auch Sozial- und Geisteswissenschaftler entdeckt, dass die Erfor-schung des Schlafs als soziales, kulturelles, politisches und ökonomisches Phänomen Rückschlüsse zulässt auf den Alltag, die Organisation und die Grundmuster einer Gesellschaf…


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