Die Suche nach dem Fremden

Die Suche nach dem Fremden

Einband:
Fester Einband
EAN:
9783593396002
Untertitel:
Geschichte der Ethnologie in der Bundesrepublik 1945-1990
Genre:
Ethnologie-Lexika
Autor:
Dieter Haller
Herausgeber:
Campus
Auflage:
1. Aufl. 03.2012
Anzahl Seiten:
395
Erscheinungsdatum:
31.03.2012
ISBN:
978-3-593-39600-2

Die erste Geschichte der deutschen Ethnologie

Die Ethnologie als Wissenschaft vom kulturell Fremden hat sich in ihrer Geschichte vielen Völkern und Kulturen zugewandt. Allerdings gibt es bislang noch keinen umfassenden Überblick über die Geschichte des Faches in der Bundesrepublik als einer der größten ethnologischen Nationen. Dieter Haller beschreitet somit Neuland: Nach einem Rückblick auf die Anfänge des Faches und seine Verwicklungen im Nationalsozialismus wagt er eine Zusammenschau der Pfade, die es nach dem Zweiten Weltkrieg beschritten hat. Dabei rückt er die institutionellen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen in den Kontext der politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen der Bundesrepublik von 1949 bis zur Wende. In der Ethnologie spiegelt sich das Unbehagen an der bundesrepublikanischen "Enge", dem Vernunftdenken und dem Glauben an Machbarkeit; sie überschreitet mit ihrem Interesse am Exotischen und Fremden den Horizont des Eigenen und trägt zum Verstehen anderer Lebenswelten und Kulturen bei. Dabei bietet das Buch auch einen Ausblick auf das Anthropologische, auf das, was den Menschen möglich ist.

Autorentext
Dieter Haller ist Professor für Sozialanthropologie an der Universität Bochum. Er hat das dortige Zentrum für Mittelmeerstudien mitbegründet. Im Rahmen seiner Geschichte der Ethnologie hat er über 60 Interviews mit Ethnologinnen und Ethnologen geführt und unter www.germananthropology.de eine Internetseite für die deutschsprachige Ethnologie aufgebaut. Er ist Autor des "dtv-Atlas Ethnologie" (2005).

Leseprobe
2 Rekonstruktion - 1945 bis 1955 Am Ende des Zweiten Weltkriegs lag Deutschland in Trümmern: materiell, ideell, psychisch und physisch. Das nationalsozialistische Deutschland hatte Europa und andere Teile der Welt in eine verheerende Katastrophe geführt, Millionen von Menschen waren ihr zum Opfer gefallen. Im Mai 1945 beendeten die Alliierten diesen Spuk. Sie besiegten das Naziregime und besetzten Deutschland. In den drei westlichen Besatzungszonen begann der Aufbau einer neuen Demokratie. Die Gesellschaft sehnte sich nach Stabilität, weil die Umstände materiell verheerend waren, die Menschen physisch entwurzelt und psychisch traumatisiert. Viele Deutsche lebten mit dem Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein. Sie wollten nichts mehr von Politik wissen, blickten nach vorn - vorwärts in eine neue, bessere Zeit. Die Älteren verdrängten die Vergangenheit und die eigenen Taten während der tausend Jahre des nationalsozialistischen Regimes. Die junge Generation dagegen wandte sich aus anderen Gründen der Zukunft zu. Sie fühlte sich vom Nationalsozialismus und vom Krieg um ihre Kindheit und Jugend betrogen, wie die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann dies in ihrem Kriegstagebuch beschreibt. So trug gerade der Lebens- und Bildungshunger der Jüngeren dazu bei, dem Schritt in die neue Zeit und in die neue Demokratie die Kraft zur Entwicklung zu geben. Der Historische Anthropologe, Journalist und Bourdieu-Schüler Nils Minkmar nennt die frühe Bundesrepublik ein Land "von ausgedachten Geschichten: die Stunde null, die es nicht geben konnte, weil man eine Bevölkerung nicht austauschen kann, der Wiederaufbau, der weder erwünscht noch möglich war, der Zauberspruch keine Experimente zu Beginn einer Staatsform, die in jeder Hinsicht experimentell war. Das Neue war überall, aber überzeugt waren die wenigsten davon. [] Familie, Sozialordnung, Wertegefüge - alles war umgepflügt, es war ein revolutionärer Start, der genau das nicht sein wollte und seinen umstürzlerischen Charakter durch hemmungslose Biederkeit kompensierte." Jenseits aller Parteibindungen dominierte ein autoritärer gesellschaftlicher Geist, der sich etwa in rigiden Moralvorstellungen ausdrückte. Die Dietrich blieb vorsichtshalber in Amerika, die Knef durfte nur kurz Blöße zeigen und die stark gewordenen Trümmerfrauen "sollten wieder eingefangen und vor eine Küchenzeile gestellt werden. Jede gesellschaftliche Veränderung stand unter Verdacht, einen neuen Totalitarismus gebären zu können". Allerdings verstanden es Pionierinnen wie die Flensburger Unternehmerin Beate Uhse, die Sexualmoral unter der vorerst funktionalen Begrifflichkeit des ehehygienischen Instrumentariums langsam zu verändern. Die Nachkriegszeit brachte auch gewaltige demographische Umwälzungen mit sich, insbesondere einen Zuzug von zirka 13 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und aus Osteuropa. Rund 30 Prozent der Gesamtbevölkerung lebten nicht mehr dort, wo sie aufgewachsen waren. Die alten sozialen Hierarchien waren durch diese Entwicklungen nachhaltig gestört. Unter denen, die aus den ehemaligen Ostgebieten und Osteuropa in den Westen flohen, waren auch viele spätere Ethnologen - alleine oder mit den Eltern. Die Währungsreform am 21. Juni 1948 half dabei, das Gewesene zu verdrängen. Noch vor Gründung der Bundesrepublik wurde in Trizonesien - den drei Westzonen - die D-Mark als einheitliches Zahlungsmittel eingeführt. Daraufhin wuchs die Wirtschaft schnell und gipfelte Mitte der 1950er Jahre im sogenannten zweiten deutschen Wirtschaftswunder. Nach der wirtschaftlichen erfolgte die politische Einigung der drei Westzonen. Im April 1949 wurde das Besatzungsstatut der Alliierten Frankreich, Großbritannien und USA verabschiedet und an den Parlamentarischen Rat gesandt; knapp einen Monat später wurde es von den drei Militärgouverneuren und Oberbefehlshabern verkündet. Parallel wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik erarbeitet, es trat am 23. Mai 1949 in Kraft. Das Besatzungsstatut diente dazu, die Militärgouverneure durch zivile Hohe Kommissare zu ersetzen. Es regelte zudem die Zuständigkeiten zwischen der neu formierten deutschen Regierung vom 15. September 1949 und der Alliierten Hohen Kommission (AHK). Damit war die von Anfang an föderal strukturierte Bundesrepublik bis zum Abschluss der Pariser Verträge (1955) nur begrenzt souverän. Das Bildungssystem, und damit der Rahmen, innerhalb dessen sich auch die Universitäten entwickelten, war Ländersache. Für die Völkerkunde, wie das Fach damals noch uneingeschränkt hieß, bedeutete der Neuanfang, die materiellen, personellen und geistigen Bestände zu sichten, wieder mit der Arbeit an Museen und Universitäten zu beginnen und der wissenschaftlichen Fachvereinigung DGV erneut Leben einzuhauchen. Außerdem galt es, den Austausch mit der internationalen Kollegenschaft wieder aufzunehmen. Die Umstände, unter denen man arbeitete, waren nach heutigen saturierten Maßstäben miserabel. Die materiellen Schäden werden im Bericht über das erste Treffen der Völkerkundler nach dem Krieg, 1946 in Frankfurt, aufgelistet. Universitäts- und Museumsgebäude lagen vielerorts in Schutt und Asche, die Museumsbestände waren zerstört oder ausgelagert. Die Bibliotheken in Lübeck und Berlin waren in Flammen aufgegangen. Die anthropologischen Gesellschaften ruhten und mussten bei den Besatzungsmächten ihre Wiederzulassung beantragen. Viele Völkerkundler hatten während des Krieges im Feld gestanden, mancher - wie Frobenius' Kronprinz Ewald Volhard oder der Leipziger Willy Schilde - war gefallen. Einige der Überlebenden waren, von den psychischen Verletzungen einmal abgesehen, physisch kriegsversehrt, wie der Frobenide Helmut Straube. Die meisten Emigranten blieben im Ausland, etwa Leonhard Adam, Herbert Baldus, Paul Leser, Otto Maenchen-Helfen und Heinz Wieschhoff. Nur Pater Wilhelm Koppers und Robert von Heine-Geldern kehrten nach Wien zurück. Julius Lips nahm 1948 einen Ruf an die Universität Leipzig an. Lediglich das Frobenius-Institut zeichnete sich durch eine Distanz zum Nationalsozialismus aus - "[e]s war aber auch kein Institut des heldenhaften Widerstandes." Insgesamt aber zeichnete sich die deutsche Völkerkunde in der Nachkriegszeit durch eine starke personelle und mentale Kontinuität aus. Sie war dem System des Nationalsozialismus weitgehend verbu…


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