Die Entdeckung der Dritten Welt

Die Entdeckung der Dritten Welt

Einband:
Paperback
EAN:
9783593394800
Untertitel:
Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich
Genre:
Zeitgeschichte (1946 bis 1989)
Autor:
Christoph Kalter
Herausgeber:
Campus
Auflage:
1. Aufl. 10.2011
Anzahl Seiten:
567
Erscheinungsdatum:
31.10.2011
ISBN:
978-3-593-39480-0

In den langen 1960er-Jahren, im Kontext des Kalten Krieges und der Dekolonisierung, wurde das Konzept "Dritte Welt" weltweit bekannt. In Frankreich war es auch für linke Gruppen zentral, die sich durch radikalen Antikolonialismus auszeichneten. Sie halfen der algerischen Befreiungsbewegung, protestierten gegen den Vietnamkrieg und solidarisierten sich mit postkolonialen Arbeitsmigranten. Christoph Kalter untersucht diese neue radikale Linke und ihre Wahrnehmung der Welt als Revolutionsraum. Er rückt damit die 68er-Proteste in ein neues Licht und zeigt, wie sehr das Ende der Kolonialreiche auch Europa selbst veränderte.

Ausgezeichnet mit dem Walter-Markov-Preis für Geschichtswissenschaften 2011.

Autorentext
Christoph Kalter, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin.

Leseprobe
Eine Entdeckung und ihre Folgen Die '68er-Proteste wirkten in Frankreich und weltweit noch nach, als der Entwicklungsökonom Ignacy Sachs 1971 in Paris einen längeren Essay veröffentlichte. Er beschrieb dort die Dekolonisierung als dramatischsten Einschnitt in der Geistesgeschichte der jüngsten Vergangenheit. Die Welle der Befreiung in den Kolonien nach dem Zweiten Weltkrieg habe ein ganzes Weltbild zerstört. Seit der Zeit der Entdeckungsreisen hätten die Europäer sich selbst als zivilisierte und beherrschende Mitte, alle anderen als Bewohner einer barbarischen und von Europa beherrschten Randzone wahrgenommen. Doch dieser von kulturellem Hochmut und rassistischen Stereotypen getragene Eurozentrismus sei nun unwiederbringlich am Ende. Verantwortlich für diese Revolution der Wahrnehmungen war laut Sachs der tiers monde, die Dritte Welt - ein Begriff, den der Demograf Alfred Sauvy 1952 in Paris geprägt hatte und der sich von der damaligen Welthauptstadt des intellektuellen Lebens aus rasant verbreitete. Bald bezeichnete der Terminus auf dem ganzen Globus die (ehemals) kolonisierten, blockfreien und vermeintlich unterentwickelten Gesellschaften Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Nach ihrer Neuentdeckung als Dritte Welt benannte Ignacy Sachs 1971 sein Werk: La découverte du tiers monde. Auch das vorliegende Buch handelt von dieser Entdeckung. Es fragt nach ihren Voraussetzungen und ihrem Verlauf, nach ihren intellektuellen und politischen Folgen. Zu diesen Folgen zählt die Entstehung einer neuen radikalen Linken. Etwa zeitgleich mit der Dritte-Welt-Idee entwickelte sie sich seit Mitte der 1950er-Jahre in verschiedenen Ländern des Westens. Diese Linke bewegte sich jenseits der etablierten Organisationen von Sozialdemokratie und Kommunismus und machte beiden bis in die 1970er-Jahre hinein scharfe Konkurrenz. Dabei war radikaler Antikolonialismus ihr wichtigstes Distinktionsmerkmal. An der Entdeckung der Dritten Welt, die sich in Sozialwissenschaften, Politik, Medien und Alltagskultur gleichermaßen vollzog und die auf der ganzen Welt ihre Wirkung entfaltete, war die neue radikale Linke maßgeblich beteiligt. Andererseits ist sie eine Folge dieser Entdeckung und hätte ohne sie nicht existiert. Eine erste Frage der folgenden Untersuchung ist daher, wie die neue radikale Linke zu den vielfältigen Bedeutungen des Dritte-Welt-Konzepts beitrug, welchen Sinn sie ihm gab und welchen Anteil sie daran hatte, die Vor- und Darstellungen der damit bezeichneten außereuropäischen Weltteile zu politisieren und zu verbreiten. Umgekehrt wird zweitens gefragt, wie der Bezug auf die Dritte Welt es heterogenen Gruppen linker Intellektueller und Aktivistinnen erst ermöglichte, sich von der "alten" Linken abzugrenzen, ein eigenes Projekt zu definieren, und dafür in relevanten Öffentlichkeiten Unterstützung zu mobilisieren - kurzum: Politik zu machen. Die Entdeckung der Dritten Welt und die Entstehung der neuen radikalen Linken verliefen also parallel, doch nicht nur das: Diese Linke und eine bestimmte Dritte-Welt-Idee waren, so meine These, seit Ende der 1950er-Jahre in einer verflochtenen Geschichte wesentlich aufeinander bezogen, bis sie um die Mitte der 1970er-Jahre gemeinsam verschwanden. Seit der Landung des Christoph Kolumbus auf den Bahamas 1492 hat die Metapher der Entdeckung eine stark koloniale, eurozentrische Konnotation. Tatsächlich impliziert der Begriff meist ein Machtungleichgewicht zwischen Entdeckern und Entdeckten, immer aber eine selektive Perspektive. Ich will deshalb präzisieren: Dieses Buch handelt von der Entdeckung der Dritten Welt durch und für die neue radikale Linke in Frankreich. Der Blickwinkel dieser Linken ist weder der einzig relevante, noch kann er isoliert gedacht werden: Die zeitgleichen Dritte-Welt-Entdeckungen durch die Sozialwissenschaften, durch die Linke in anderen westlichen Ländern und schließlich durch die IntelDritten Welt selbst haben sich mit der Perspektive der linksradikalen Französinnen und Franzosen verschränkt. Diesen Verflechtungen soll Rechnung getragen werden, ohne darüber die für dieses Buch zentrale Blickrichtung aus den Augen zu verlieren: die der neuen radikalen Linken in Frankreich. Zur Entdeckung Amerikas ist diejenige der Dritten Welt wiederholt in Beziehung gesetzt worden. Beide Male glaubten Europäer eine Welt zu finden, die bisherige Deutungsmuster erschütterte und Fragen nach ihrem Verhältnis zu den entdeckten Gesellschaften sowie nach den sie konstituierenden Individuen aufwarf. Wurde nach 1492 diskutiert, ob die Bewohner Amerikas wirklich Menschen und zum christlichen Glauben fähig seien, fragten sich viele in Europa nach 1952, ob die Kolonisierten, die man jahrzehntelang als Wilde oder Kinder, als kulturell oder "rassisch" Minderwertige, als passive Objekte zivilisatorischer Erziehungsarbeit betrachtet hatte, nicht doch eigenverantwortlich und erfolgreich zu handeln vermochten. Schließlich erzwangen sie nun das Ende europäischer Kolonialherrschaft und so zugleich ihren "Wiedereintritt in die Geschichte", wie ein verbreiteter Topos der Unabhängigkeitsära lautete. Durch die empfundene Neuheit Amerikas und der sogenannten Dritten Welt wurden so einerseits bekannte Wissensmuster fragwürdig. Andererseits blieb auch das Verstehen der Neuen Welten an altes Vorwissen gebunden. Kolumbus und die Reiseberichte der frühen Neuzeit projizierten antike und christliche Traditionen in die Leerstelle eines vermeintlich geschichtslosen Kontinents. Die Europäer versuchten, "die Neue Welt in existierende Begriffsraster einzupassen, sie in Übereinstimmung mit [ihren] eigenen Normen zu klassifizieren und sie den westlichen Repräsentationstraditionen einzuverleiben". Ganz ähnlich verhielt es sich mit der Dritten Welt, einem Konzept, dem ebenfalls Altes anhaftete, während es Neues verkündete. Dies galt für den Mainstream der westlichen Sozialwissenschaften und die durch sie beeinflusste Entwicklungspolitik. Hier drückte das Konzept einerseits die deutlich veränderte westliche Wahrnehmung der (ehemaligen) Kolonien im Kontext von Dekolonisierung und Kaltem Krieg aus, während es andererseits koloniale Traditionen europäischer Selbsterhöhung durch die Abwertung des Anderen fortführte. Doch auch die Entdeckung der Dritten Welt durch die neue radikale Linke war nicht frei von der Ambivalenz des Alt-Neuen: Sie erklärte die Dritte Welt einerseits zum nachahmenswerten Modell oder Impulsgeber für die antikapitalistische Linke der Ersten Welt. Damit würdigte sie die Dynamik des Neuen und stellte bekannte Hierarchien auf den Kopf. Andererseits sah auch die radikale Linke in der außereuropäischen Welt einen Spiegel Europas - und in der "Dritten Welt" und ihrer als "Kolonialrevolution" gedeuteten Dekolonisierung die Akteure und Etappen eines marxistischen Befreiungsplans. Als Verbindung von europäischer Geschichtsphilosophie, Gesellschaftstheorie und politischer Tradition hatte dieser Marxismus einen universalen Anspruch - und deutlich eurozentrische Wurzeln. Das Neue konnte so zunächst auch…


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