Der lange Arm Roms?

Der lange Arm Roms?

Einband:
Paperback
EAN:
9783593393902
Untertitel:
Globale Verwaltung und Kommunikation im Jesuitenorden 1540-1773
Genre:
Neuzeit bis 1918
Autor:
Markus Friedrich
Herausgeber:
Campus
Auflage:
1. Aufl. 03.2011
Anzahl Seiten:
509
Erscheinungsdatum:
31.03.2011
ISBN:
978-3-593-39390-2

Das 16. Jahrhundert erlebte eine enorme Zunahme von Verwaltungstätigkeiten mit neuen, teilweise bis heute vertrauten Formen und Verfahren. Markus Friedrich analysiert die europäische Bürokratisierung am Beispiel des weltweit agierenden Jesuitenordens. Dabei zeigt er, welche gewaltige kulturelle Anstrengung hinter dieser Veränderung stand und welche Schwierigkeiten immer wieder auftraten.

Autorentext
Markus Friedrich, Dr. phil. habil., ist wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Universität Frankfurt am Main. Der Autor wurde ausgezeichnet mit dem Heinz Maier-Leibnitz-Preis 2011 der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung.

Leseprobe
Einleitung Der Vorfall vom Frühsommer 1682 wird unter den Bewohnern der Stadt Harlem in den Niederlanden wohl noch eine Weile für Gesprächsstoff gesorgt haben. Auf dem Weg zu ihrem Schiff, das sie nach Leiden bringen sollte, gerieten zwei Jesuiten in Streit. Jacob de Vos hatte Aegidius Estreix versprochen, mit ihm zusammen aus Harlem abzureisen. Doch im letzten Moment überlegte er es sich anders. Estreix redete heftig auf seinen Ordensbruder ein und griff später auch zu deutlicheren Worten. Es kam zu einer Szene, die auch den Passanten in der Nähe nicht verborgen blieb. Schließlich flüchtete de Vos. Estreix änderte seine Reisepläne und blieb noch einmal in Harlem. Doch de Vos kam an diesem Tag nicht zurück. Der Eklat vom Mai 1682 war nur eine Episode im lange schwelenden Konflikt um Jacob de Vos. Als Missionar war dieser Ende der 1670er Jahre aus Belgien nach Groningen in die holländische Mission versetzt worden, wo die Gesellschaft Jesu seit längerem aktiv war und die niederländischen Katholiken betreute. De Vos ging seine neue Aufgabe zunächst mit viel Elan und sehr erfolgreich an. Doch bald begannen die Probleme. Es hieß, de Vos habe unvorsichtig eine Reihe wichtiger Personen beleidigt. Außerdem sei er, gerade in seinem Kleidungsstil, dem Luxus allzu sehr zugetan. Am schwerwiegendsten war freilich, dass er eine auffällig große weibliche Gefolgschaft um sich versammelt hatte. Mit mehreren jungen Damen würde er oft ausführliche Mahlzeiten einnehmen und regelmäßig auch abends mit den Frauen zusammen sein. Sexuelle Anschuldigungen wurden zwar nicht erhoben, doch das Verhalten war auch so skandalös genug. De Vos habe darüber gelegentlich sogar seine eigentlichen Pflichten vergessen. Mehrmals habe er versäumt, die Sterbesakramente zu spenden, weil er sich mit seinen Anhängerinnen getroffen habe. Schließlich stellten ihn die Bürger Groningens zur Rede und die Ordensobrigkeit griff ein. De Vos sollte nun abberufen werden und Libertus Nannens seinen Posten in Groningen vorübergehend einnehmen. Doch nun begannen die Probleme mit dem renitenten Ordensmitglied erst richtig. De Vos nahm ein unstetes Vagantenleben auf, das ihn von einem Ort in den Niederlanden zum nächsten führte. Allenfalls ungefähr wussten die Oberen noch, wo er sich gerade aufhielt. Im Lauf weniger Monate entglitt de Vos immer mehr der Autorität seiner Oberen. Um ihn besser unter Kontrolle zu halten, beorderte man ihn aus den nördlichen Missionsgebieten wieder in das Kernland der belgischen Ordensprovinz zurück. Doch de Vos verweigerte den Ortswechsel, weil er (nicht ohne Grund) fürchtete, in der Kernprovinz dem Zugriff seiner Oberen viel stärker ausgesetzt zu sein. Jacob de Vos agierte in einem religiösen Grenzgebiet. Die fragile Stellung der Gesellschaft Jesu in den Niederlanden verhinderte immer wieder einen energischen, konzentrierten Regierungsstil der Oberen. Hinzu kam der soziale Rückhalt, den der Missionar vor Ort teilweise genoss. Außerdem wusste de Vos sehr gut, wie er sich der Kontrolle seiner Oberen erwehren konnte. Er ließ den Kontakt zu ihnen einerseits nie ganz abreißen, drohte aber andererseits mehrfach damit, sich direkt an die päpstliche Kurie in Rom um Unterstützung zu wenden. De Vos nutzte das Kompetenzgerangel, das die aus vielen Ebenen bestehende Struktur kirchlicher Obrigkeit kennzeichnete, geschickt für seine Zwecke aus. Die Situation wurde noch dadurch verschärft, dass Aegidius Estreix nicht selbst der eigentlich verantwortliche Vorsteher der flandrobelgischen Ordensprovinz war, zu deren Autoritätsbereich die niederländische Mission gehörte. Provinzial war vielmehr Ludwig de Camargo. Dieser war 1682 freilich nicht vor Ort, sondern hielt sich gerade zur Generalkongregation in Rom auf. Estreix regierte nur interimistisch und konnte oder wollte deshalb meistens nicht selbst entscheiden. Er schrieb häufig und ausführlich über die Angelegenheit de Vos nach Rom an seinen Vorgesetzten. Regelmäßig und teilweise wörtlich gab Estreix dabei Briefe aus den Niederlanden wieder, die ihn selbst von dort in großer Zahl erreichten. De Camargo in Rom sollte auf diesem Weg "perfekte Information" erhalten und dürfte tatsächlich gut über die Angelegenheit Bescheid gewusst haben. Der Konflikt um Jacob de Vos ist damit nicht nur eine Auseinandersetzung um Missionsstrategien und (weibliche) Frömmigkeit, sondern auch eine Episode aus dem Alltag der Herrschaftsausübung und des Regierens im Orden. Der Streit um den renitenten Jesuiten lässt erkennen, wie das Verhältnis der verschiedenen Hierarchieebenen in der Gesellschaft Jesu war und wie Entscheidungen alltäglich gefällt wurden. Doch de Vos zeigte seinen Oberen - und damit auch dem modernen Beobachter - zugleich ganz deutlich die Grenzen der eingespielten Verfahren auf. Estreix oder de Camargo konnten nicht so einfach auf den einzelnen Ordensmann zugreifen, wie sich dies etwa im Ordensgrundgesetz, den Constitutiones, lesen mochte. Das Regieren der Ordensgemeinschaft war vielmehr ein komplizierter Prozess, der mehrere Hierarchieebenen über große Entfernungen hinweg koordinieren musste. Schriftlich erfolgende Berichterstattung an die geographisch ferne Ordensleitung in Rom war dabei von größter Bedeutung. Damit sind die hauptsächlichen Interessen der folgenden Kapitel bereits erwähnt. Es geht um Regierungspraxis und Herrschaftsausübung im Jesuitenorden und um die Rolle informationsvermittelnder Kommunikation in diesem Zusammenhang. Es geht um die institutionellen Strukturen und alltäglichen Praktiken der Entscheidungsfindung und um das Zusammenspiel der verschiedenen Hierarchieebenen innerhalb des Ordens. Es geht nicht zuletzt um eine Alltagsgeschichte von Politik, verstanden als Erzeugung bindender Entscheidungen, im Zeitalter der beginnenden Bürokratisierung.

Inhalt
Inhalt Vorwort 9 Einleitung 11 1. Administratives Selbstbild: Konzeptionen informationsbasierter Herrschaftsausübung 41 1.1. Die Ordensleitung "auf dem hohen Turm": Monarchie und Zentralismus 43 1.2. Der papierene General: Informationstransfer zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit 80 1.2.1. Voraussetzungen, Normen und Strukturen der regulären Verwaltungsbriefwechsel 82 1.2.2. Schriftbasierte Informationssysteme im 16. und 17. Jahrhundert: Zum Kontext 105 1.2.3. Informationstransfer durch Mobilität von Personen: Missionare, Prokuratoren, Visitatoren 112 1.3. Kritik am Herrschafts- und Informationskonzept aus den Reihen des Ordens 124 2. Regierungsalltag: Institutionen, Entscheidungsfindung, Herrschaftsausübung 141 2.1. Die Ordenskurie in Rom 141 2.1.1. Die Ordenskurie als Lebens-, Kommunikations- und Arbeitsraum 143 2.1.2. Die Institutionen der römischen Ordensleitung 155 2.1.3. Der Alltag des Entscheidens zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit 181 2.2. Verwalten und Entscheiden in den Provinzen 196 2.2.1. Ämter, Einflussbereiche und Kompetenzverteilung 198 2.2.2. Institutionen und Prozeduren kollektiver Beratung 220 3. Informationssystem: Sammlung und Austausch von Information 231 3.1. Visitationen, Spitzel, Enquêtes: Zur Sammlung von Information in den Provinzen 232 3.2. Verwaltungskorrespondenzen 252 3.2.1. Struktur der Geschäftsbriefwechsel: Eine statistische Auswertung 254 3.2.2. Thematische Rei…


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