Historische Kriminalitätsforschung

Historische Kriminalitätsforschung

Einband:
Kartonierter Einband
EAN:
9783593393094
Untertitel:
Historische Einführungen 9
Genre:
Kulturgeschichte
Autor:
Gerd Schwerhoff
Herausgeber:
Campus Verlag GmbH
Auflage:
1. Aufl. 03.2011
Anzahl Seiten:
234
Erscheinungsdatum:
28.02.2011
ISBN:
978-3-593-39309-4

Historische Einführungen

Gewaltrituale, organisiertes Verbrechen oder verbotene Sexualität - kaum etwas charakterisiert eine Gesellschaft anschaulicher als das, was sie als abweichendes Verhalten definiert. Folgerichtig beschäftigt sich die Geschichtswissenschaft zusehends intensiver mit den typischen Erscheinungsformen von Kriminalität und ihrem Wandel in verschiedenen Epochen. Gerd Schwerhoff vermittelt in diesem Band die zentralen Fragestellungen, Methoden und Theorien der historischen Kriminalitätsforschung. Er skizziert die wichtigsten Deliktfelder vom Mittelalter bis in die neueste Zeit sowie das breite Spektrum möglicher Sanktionen und zeigt, welche Quellen wie genutzt werden können. Der Band gibt einen umfassenden Überblick über die Geschichte der Kriminalität und ihre Erforschung.

Autorentext
Gerd Schwerhoff ist Seniorprofessor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der TU Dresden.

Leseprobe
1. Einleitung: Gegenstand und Begriffe Kriminalität ist ein Teil unseres gegenwärtigen Alltags. Geht es um das eigene Lebensumfeld, denken wir uns dabei zunächst einmal als Opfer von Einbrüchen, Autodiebstählen oder Überfällen oder aber als Zeugen von kriminellen Handlungen. Wenn wir ehrlich sind, kommen die meisten von uns aber auch als potentielle Gesetzesbrecher in Frage: Wer mag sich davon frei sprechen, schon einmal als Ladendieb, als Versicherungsbetrüger, als Steuerhinterzieher oder auch lediglich als Verkehrssünder tätig oder gar auffällig gewesen zu sein? Häufiger beschäftigt uns Kriminalität jedoch in fiktionaler Form: In den Urlaub begleitet uns der unvermeidliche Kriminalroman, während wir jeden Tag in zahlreichen Fernsehserien Polizisten oder Privatdetektiven bei ihren Ermittlungen zusehen können. Als Brücke zwischen erlebter Realität und Fiktion fungieren die Massenmedien. Gerade hier nimmt die Kriminalität einen zentralen Platz ein. Berichte über besonders grausame Verbrechen, über außergewöhnliche kriminelle »Karrieren« oder über die Macht der organisierten Kriminalität bringen die unterschiedlichsten Seiten bei den Rezipienten zum Klingen: Sie können Unterhaltungsbedürfnisse befriedigen, Bedrohungs- und Ohnmachtsgefühle wachrufen, aber auch auf dem Umweg über vermeintliche Ausnahmefälle Einblicke in politische und ökonomische Strukturen der heutigen Gesellschaft vermitteln. Einfühlsamen Gerichtsreportern kann es gelingen, aus dem Schicksal von Angeklagten, Klägern und Opfern ein beredtes Porträt unserer Zeit zu destillieren. Über den Einzelfall hinaus werden in ihren Berichten Schattenseiten und Konfliktlinien unserer Gesellschaft deutlich. Kriminalität und abweichendes Verhalten, so wird hier sichtbar, sind ein wichtiges Abbild gesellschaftlicher Zustände. Polizeistatistiken auch über sie wird regelmäßig berichtet erscheinen geradezu als Fieberkurve sozialer Krankheitszustände. Am eindrücklichsten gilt das für die Großstadtkriminalität. Seit etlichen Jahren ist Frankfurt am Main Träger der roten Laterne der höchsten Kriminalitätsbelastung und gilt als »gefährlichste Großstadt Deutschlands«, obwohl Experten die Aussagekraft der Daten in Frage stellen und zum Beispiel auf die »importierte« Kriminalität auf dem Rhein-Main-Flughafen verweisen (spiegel online 12.4.2007). Eng verwoben mit den Diagnosen sind die kriminalpolitischen Therapievorschläge. Weil sich hier wie kaum irgendwo anders ordnungspolitische Vorstellungen kristallisieren, wird mit dem Thema Kriminalität regelmäßig Politik gemacht. Wie stark die Bewertungen divergieren können, zeigt die Tatsache, dass wechselweise zum Beispiel Gewalt gegen Ausländer und Gewalt durch Ausländer zum Thema gemacht wird. So verwundert es nicht, dass die Rezepte zur Kriminalitätsbekämpfung ebenfalls diametral entgegengesetzt ausfallen: Wo die einen nach der »starken Hand« von Polizei, Justiz und Strafvollzug rufen loben, verweisen die anderen auf soziale Deprivation als Kriminalitätsursache und sehen die Abhilfe eher in Prävention und Resozialisierung. Dabei ist die allgemeine Wahrnehmung der Bevölkerung von der statistisch »gemessenen« Kriminalität weitestgehend abgekoppelt und wird durch sensationalistische Medienberichte geprägt: Während zwischen 1993/5 und 2003/5 in Deutschland insgesamt ein zum Teil erheblicher Rückgang der Straftaten zu verzeichnen war, zeigen Stichprobenbefragungen, dass allgemein ein starker Anstieg der Zahlen unterstellt wird (Windzio 2007: 20). Kriminalität (von lat. crimen = Beschuldigung, Anklage, Verbrechen), das zeigen schon die einleitenden Bemerkungen, ist keine soziale Wirklichkeit sui generis, sondern kulturell und gesellschaftlich konstruiert. Zum einen, so eine Bestimmung aus der gegenwartsbezogenen Kriminologie, bezeichnet der Begriff »Kriminalität« diejenigen Tatbestände, die »das jeweilige Kontrollsystem bestehend aus Verbrechensopfer und Anzeigenerstatter bis hin zu Polizei und Strafrechtspflege besonders missbilligt und bestraft sehen will« (G. Kaiser, Art. »Kriminalität«, in: KKW). Diese Definition bezieht sich offensichtlich vor allem auf eine konkrete Zurechnung: Verdient ein individuelles Verhalten, etwa eine Gewalttat, das Etikett »kriminell«? Oder handelt es sich um einen Akt der Notwehr oder gar um einen Unfall? Dieser Zurechnung vorausgehen muss jedoch zum anderen eine gesellschaftliche Verständigung darüber, was das jeweilige Kontrollsystem als Kriminalität sanktionieren, unter welchen Umständen also zum Beispiel Gewalt als abweichendes Verhalten gelten soll und wann nicht (wie etwa im Krieg). Dieser Verständigungsprozess ist ein komplexer gesellschaftlicher Diskurs, den die unterschiedlichsten Akteure aus Politik, Wissenschaft und Rechtspraxis in verschiedenen Medien vorantreiben (vgl. Kap. 6) und der sich dann in rechtlichen Normen kristallisiert. Genauer besehen handelt es sich bei Kriminalität also um eine (mindestens) doppelte soziokulturelle Konstruktion. Diese Feststellung macht zugleich deutlich, dass Kriminalität historisch variabel ist. Denn jenseits der Geltungsbehauptung überzeitlicher, gleichsam anthropologischer Normen (»Du sollst nicht töten!«, »Du sollst nicht stehlen!«) lassen sich kaum universeller gültige Regeln dafür aufstellen, ob ein bestimmtes Verhalten als kriminell gelten soll. So wird etwa die Betrachtung der Gewaltsamkeit zeigen, dass sich die Grenze zwischen legitimer Rache oder Selbsthilfe und verabscheuenswertem Mord vom Mittelalter zur Neuzeit deutlich verschiebt (vgl. Kap. 5.1). Unser heutiges Verständnis von Kriminalität ist das Ergebnis komplexer geschichtlicher Entwicklungen und lässt sich nur sehr bedingt auf die Antike (vgl. Riggsby 1999) oder das Mittelalter (vgl. Kap. 4) übertragen. Im engeren Sinn entwickelte sich das Konzept der Kriminalität erst seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Ludi 1999). Den herkömmlichen Maßstab von Kriminalität in der Gegenwart bilden das Strafrecht und der darin enthaltene Sanktionsanspruch, denn sie wird definiert als »die Summe der strafrechtlich missbilligten Handlungen« (G. Kaiser, Art. »Kriminalität«, in: KKW). Das engt zum einen das Spektrum der betrachteten Handlungen stark ein, denn leichtere Vergehen gegen die Rechtsordnung werden von vornherein beiseite gelassen. Vor allem aber ist dieser Maßstab für die historische Arbeit problematisch, weil ein öffentliches Strafrecht nicht in jeder historischen Epoche existierte, sondern sich in Europa im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit erst allmählich und regional höchst phasenverschoben entwickelte. Dieser Prozess selbst ist für die Rechts- und Kriminalitätsgeschichte von hoher Relevanz (Willoweit 1999). Um eine übergeordnete analytische Perspektive zu finden, empfiehlt es sich deshalb, den exklusiven Bezug auf ein schriftlich fixiertes Strafrecht zu vermeiden. Einige Autoren verwenden daher den Begriff »Delinquenz« (Straffälligkeit) (Burghartz 1990: 9 f.). An einem soziologischen statt einem rechtlichen Bezugsrahmen orientieren sich Studien, die von Devianz (abweic…


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