Vilnius

Vilnius

Einband:
Fester Einband
EAN:
9783593393087
Untertitel:
Geschichte und Gedächtnis einer Stadt zwischen den Kulturen
Genre:
Regional- und Ländergeschichte
Herausgeber:
Campus
Auflage:
1. Aufl. 10.2010
Anzahl Seiten:
248
Erscheinungsdatum:
31.10.2010
ISBN:
978-3-593-39308-7

Litauens Hauptstadt Vilnius wurde im 20. Jahrhundert zum Brennpunkt sozialer und nationaler Revolutionen, von Kriegen und Besatzungen. Insbesondere seit der politischen Unabhängigkeit im Jahr 1991 begann sich die Stadt neu in Europa zu verorten und ihre Geschichte neu zu entdecken. Bereits seit Jahrhunderten ist die Stadt ein Erfahrungsraum verschiedener Kulturen. Spuren vergangener Lebenswelten und Identitäten zeigen sich bis heute in der Vielfalt der städtischen Architektur und Topografie. So gibt es neben dem litauischen das polnische und das jüdisch-jiddische, das russische und das weißrussische Vilnius: Orte, die von verschiedenen nationalen und konfessionellen Gruppen in Besitz genommen wurden. Die Autorinnen und Autoren des Bandes nehmen uns mit auf eine Entdeckungsreise und zeigen uns Vilnius in seiner historischen und kulturellen Vielfalt. Anschaulich vermitteln sie, wie sehr Gegenwart und Zukunft der Stadt mit den historischen Erfahrungen verwoben sind.

"Die Herausgeber und Autoren haben in sehr kurzer Zeit die wichtigsten Merkmale der Erinnerungskulturen in Vilnius erkannt und sie im Buch überzeugend präsentiert. Ihnen ist es gelungen, die historische Vielstimmigkeit der Stadt zu entdecken. Deswegen gehört diese Arbeit zu den wenigen Büchern, die ich zur Vorbereitung einer Reise nach Vilnius oder als Begleiter während eines Aufenthalts in der Stadt zur Lektüre empfehlen würde." Alvydas Nikzentaitis, Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 01.06.2012

Autorentext
Martin Schulze Wessel ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Irene Götz ist dort Professorin für Europäische Ethnologie. Ekaterina Makhotina, M. A., ist Historikerin am Collegium Carolinum in München.

Leseprobe
I. Nationalisierte Stadtlandschaften: Das litauische Erbe im heutigen Vilnius Katarina Frankovic, Johannes Kontny, Ekaterina Makhotina, Viola Pokriefke Der junge Stadtführer Adomas Gricius zeigt ausländischen Gästen in Vilnius gerne das multikulturelle Gesicht seiner Stadt. Er möchte, dass die Touristen vor allem einen Eindruck der Vielfalt und des kulturellen Reichtums von Vilnius mit nach Hause nehmen. Lange Jahre habe Vilnius eine Brückenfunktion zwischen Ost und West erfüllt und auch heute noch begegneten sich hier Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Die Spuren einer im Laufe von Jahrhunderten gewachsenen Multikulturalität seien auch heute noch lesbar, dies ist die Leitlinie einer engagierten und eloquent in fließendem Englisch gehaltenen Stadtführung für internationale Touristen. Am Ende der Führung streicht der junge Litauer jedoch eine national-litauische Prägung von Vilnius heraus: Ihre »Sonderrolle« im Baltikum liege darin begründet, dass die Stadt durch die indigene Bevölkerung und nicht durch einen »Fremdherrscher« gegründet worden sei. Wie litauisch ist Vilnius, wie national präsentiert es sich dem Besucher? In Werken der Schriftsteller Tomas Venclova und Czesaw Miosz liest man von der kulturellen Vielfalt der Stadt, historische Abhandlungen schreiben die Stadtgeschichte als Verflechtungsgeschichte, doch in der litauischen Hauptstadt anno 2009 werden als genuin litauisch interpretierte Orte und Zeichen besonders prominent in Szene gesetzt. Die so geprägte Stadttopographie zeugt von dem Versuch, die historischen Wurzeln der Nation in der Gegenwart erfahrbar zu machen. Dem als nationale Blütezeit gedeuteten Mittelalter wird dabei besondere Wichtigkeit beigemessen. Kaum ein anderes Ereignis wird in Vilnius feierlicher begangen als die Entstehung der litauischen »Nation«. Diese wird auf das Jahr 1009 zurückgeführt, als die Bezeichnung Litua zum ersten Mal in den Quedlinburger Annalen erwähnt wurde. Große Plakate sowie Bilder auf Litfaß-Säulen verkündeten im Jahr 2009 das 1.000-jährige Jubiläum und prägten durch ihre Präsenz das Stadtbild. Durch sie kam in besonders augenfälliger Weise das genuin Litauische zur Sprache. In seiner aktuellen Ausführung und geschichtspolitischen Prominenz übertraf es das Feierpathos zum erworbenen Status der Kulturhauptstadt Europas. Die Bedeutung des mittelalterlichen Erbes für die Gegenwart Die Vielfalt der kulturellen Traditionen und die politischen und zivilisatorischen Brüche machen es schwer, der litauischen Nation in der gegenwärtigen staatlichen Erinnerungspolitik und der Neugestaltung des öffentlichen Raums nach 1991 ein einheitliches Fundament zu geben. Es überrascht daher nicht, dass die Suche nach nationalen Erinnerungsorten mit einer Auswahl von Motiven verbunden ist, welche die nationalen Sinnbedürfnisse der Gegenwart widerspiegeln. So ist das Großfürstentum Litauen, wie es als unabhängiges Staatsgebilde vor der Union mit Polen existierte, einer der populären Bezugspunkte für die postsozialistische Stadtgestaltung; hier wurde auf den in der Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts und dann in der Zwischenkriegszeit etablierten Fundus an nationaler Kultur, auf die entsprechenden Heldenfiguren, Bilder, Bauwerke und Staatsymboliken zurückgegriffen. Allerdings war auch ein Teil des kulturellen Erbes, etwa die unweit von Vilnius gelegene Burg Trakai, bereits zur Sowjetzeit rekonstruiert worden. Der Wiederaufbau war Teil einer sozialistischen Geschichtskultur, in der nationale Deutungen durchaus ihren Platz hatten. Schulbücher prangerten die frühneuzeitliche Fremdherrschaft der polnischen Magnaten an. Die offizielle Erinnerung an die Schlacht von Tannenberg, in der die Truppen des Großfürstentums im Jahr 1410 dem Deutschen Orden einen entscheidenden Sieg abrangen, hatte in sowjetischer Zeit die Funktion, die Furcht vor dem »deutschen Drang nach Osten« zu schüren und die Freundschaft mit den Völkern der Sowjetunion zu begründen. Ein Ausdruck dieser sinnstiftenden Bezugnahme auf 1410 war die Benennung des 1950 errichteten algiris-Stadions nach der litauischen Bezeichnung für den Ort Tannenberg. Heute wird das Großfürstentum anders als zu sowjetischen Zeiten imaginiert: Es gilt als erste Manifestation der unabhängigen litauischen Staatlichkeit, die bereits für die Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts ein wichtiger Bezugspunkt war und nach dem Ersten Weltkrieg in der Republik Litauen politisch realisiert worden ist. Deutlich wird diese gegenwärtig wieder erstarkende Kontinuitätslinie vor allem an den zahlreichen in den neunziger Jahren errichteten Denkmälern, die an die litauischen Ritter und Fürsten erinnern. Diesen Sprung in die ferne Vergangenheit illustriert das auf dem Kathedralenplatz errichtete Denkmal zu Ehren des mittelalterlichen Herrschers Gediminas, der als Staatsgründer gesehen wird. Der bronzene Großfürst strebt mit seinem ganzen Körper vorwärts, sein Pferd scheint er hinter sich herzuziehen. Die Längsseite des Sockels zeigt Reliefs weiterer Herrscher, auf der Frontseite des Denkmals ist in litauischer Sprache die Inschrift »Litauens Großfürst Gediminas 13161341« zu lesen, ein heulender Wolf erhebt sich vom Sockel (Abb. 1). Der litauische Künstler Vytautas Kauba versinnbildlicht mit diesem Denkmal den Gründungsmythos der Stadt, nach dem Gediminas, erschöpft von der Jagd, am Fuße des heutigen Gediminas-Bergs genächtigt haben soll. Der Sage nach erschien dem Großfürsten im Traum ein Wolf, der laut heulte und von keinem Pfeil verwundet werden konnte. Ein Priester deutete den Traum und riet Gediminas, auf dem Berg eine Burg zu errichten. Die Söhne der neugegründeten Stadt am Fluss Vilnia würden ihren Ruhm weit über die Landesgrenzen hinweg mehren. Diese klassische Sage zur Stadtentstehung mit Motiven des Traums, des Wolfs und der Burg liegt dem Hauptstadtmythos zugrunde. Der Gediminas-Burgturm hat bis heute eine herausragende Bedeutung für litauische Stadtbewohner in Bezug auf den Hauptstadtstatus. Ehemals ein beliebtes Angriffsziel, präsentiert sich die Burg heute als ein nationales Symbol (Abb. 2). Direkt hinter dem Gediminas-Denkmal befindet sich das wichtigste und zugleich wegen seiner hohen Kosten umstritte…


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