Gewalträume

Gewalträume

Einband:
Paperback
EAN:
9783593392318
Untertitel:
Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand
Genre:
Geschichts-Lexika
Herausgeber:
Campus
Auflage:
1. Aufl. 11.2012
Anzahl Seiten:
308
Erscheinungsdatum:
30.11.2012
ISBN:
978-3-593-39231-8

Eigene und fremde Welten

Gewalt ist ein menschliches Potenzial, überall und jederzeit. Die Autorinnen und Autoren des Bandes befassen sich aus historischer und ethnologischer Perspektive mit den Bedingungen von Gewalt. Sie zeigen, unter welchen Umständen Gewalt entsteht, wie sie sich ausbreitet und dynamisiert. Deutlich wird dabei, wie sehr Gewalt soziale Ordnungen prägen kann und wie Erfahrungen mit Gewalt Sichtweisen auf die Umwelt verändern. Nicht zuletzt behandeln die Beiträge aber auch den wichtigen Aspekt, wie Gewalt wieder beendet werden kann.

"Ein kluges und notwendiges Buch ... Kulturen der Gewalt lassen sich ohne die Kategorien, mit denen die Autoren arbeiten, kaum schlüssig erklären. Angesichts der Bedeutung und auch der Aktualität dieses Themas ist das ein großer Verdienst.", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.08.2013

Autorentext
Jörg Baberowski ist Professor für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt- Universität zu Berlin. Gabriele Metzler ist dort Professorin für die Geschichte Westeuropas.

Klappentext
Gewalt ist ein menschliches Potenzial, überall und jederzeit. Die Autorinnen und Autoren des Bandes befassen sich aus historischer und ethnologischer Perspektive mit den Bedingungen von Gewalt. Sie zeigen, unter welchen Umständen Gewalt entsteht, wie sie sich ausbreitet und dynamisiert. Deutlich wird dabei, wie sehr Gewalt soziale Ordnungen prägen kann und wie Erfahrungen mit Gewalt Sichtweisen auf die Umwelt verändern. Nicht zuletzt behandeln die Beiträge aber auch den wichtigen Aspekt, wie Gewalt wieder beendet werden kann.

Leseprobe
Jörg Baberowski Einleitung: Ermöglichungsräume exzessiver Gewalt Jörg Baberowski Gewalt verändert alles, und wer sich ihr aussetzt, wird für lange Zeit ein Anderer sein. Die Maßstäbe für Normalität verschieben sich, und was man für selbstverständlich halten konnte, erscheint im Licht der Gewalt seltsam fremd; Außergewöhnliches wird zum Alltäglichen. Nie wieder, erinnert sich der amerikanische Schriftsteller Denis Johnson, habe er die Gewaltexzesse vergessen können, deren Zeuge er im September 1990 in Liberia geworden war. Schon wenige Tage nach seiner Ankunft war nichts mehr wie zuvor. Er hatte in den Abgrund der menschlichen Seele geschaut und den Schrecken des Krieges mit allen Nerven seines Körpers empfunden. Aus dem Reich des Friedens und des Wohlstands war er nach Liberia gekommen, als Gezeichneter hatte er das Land wieder verlassen. Johnson war zu einem Anderen geworden, seit er die Hölle gesehen hatte. "Der Guerillakrieg schlängelt sich gen Süden durch den anhaltenden Regen Richtung Hauptstadt voran", schreibt er über die Eindrücke der ersten Tage, und eigentlich erwartete niemand, dass er je dort ankommen würde. Doch dann, Ende Juni, war er plötzlich da. Taylors Leute besetzten den Flughafen. Johnson näherte sich von der anderen Seite, eroberte die Stadt und isolierte den Präsidenten in seinem Amtssitz sowie einen Großteil der Armee in einem ein paar Häuserblocks umfassenden Gebiet in der Innenstadt. [...] Die Menschen begannen die Stadt zu verlassen. Die meisten britischen Diplomaten reisten ab. Alle französischen Diplomaten reisten ab. Ein halbes Dutzend Mitarbeiter des Auswärtigen Dienstes der USA blieben, und die Marines errichteten Maschinengewehrstellungen rund um die Botschaft. In Monrovia ging der Strom aus. Es floss kein Wasser mehr. Die Lebensmittel wurden knapp. Der Bürgerkrieg entfaltete eine entsetzliche Brutalität. Als Taylors Männer in Hochzeitskleidern und Duschhauben, die sie auf ihren Raubzügen erbeutet hatten, mit der Armee um den Amtssitz des Präsidenten kämpften, breitete sich eine Atmosphäre aberwitzigen Grauens aus. Die Duschhauben waren gut gegen den Regen. Wozu die Hochzeitskleider gut sein sollten, wusste niemand. Indessen rasten Johnsons Soldaten, mit roten Baskenmützen und Haarteilen vom Perückenmacher auf dem Kopf, in frisierten Mercedes-Benz durch die Straßen und ballerten wild in der Gegend herum. Die Leute, die in der Nähe der britischen Botschaft wohnten, trauten sich schließlich, Johnsons Rebellen zu bitten, dass sie die Leichen ihrer Opfer nicht an ihrem Strand abladen möchten - wegen des Gestanks. Klar, sagten die Rebellen, geht in Ordnung. In Liberia gibt es kilometerlange Strände. [...] Die meisten Flüchtlinge machten sich zu Fuß auf den Weg, zuerst durch Taylors Territorium und dann nach Westen auf Liberias bestem Highway Richtung Sierra Leone, ein Menschenstrom wie nach einem Football-Spiel. Normalerweise ist das ein fünftägiger Marsch über einigermaßen ebenes Gebiet, doch er wurde beträchtlich erschwert, weil Taylors Rebellen - blutjunge Burschen der Volksstämme Gio und Mano, die meisten zwischen elf und fünfzehn Jahre alt und mit AK-47 und M-16-Gewehren bewaffnet - sich vorgenommen hatten, alle Krahn oder Mandingo sowie sämtliche Angehörige der Armee des Präsidenten und der ehemaligen Regierung in der Menge ausfindig zu machen und zu töten. Nach etwa sechzig Kilometern, in der Stadt Klay, trafen die Flüchtlinge auf die erste Kontrollstelle. Riecht ihr das?', fragten die Rebellen. Sie meinten den Verwesungsgestank, der die Luft verpestete. Hoffentlich wisst ihr, wer ihr seid', sagten sie, sonst landet ihr da, wo der Gestank herkommt'. Wer nicht den richtigen Dialekt sprach, wer zu wohlhabend oder wohlgenährt aussah, wurde erschossen, geköpft oder mit Benzin übergossen und angezündet. Manche wurden im Mano River ertränkt. Die Flüchtlinge, die in Sierra Leone ankamen, erzählten von Kontrollstellen mit Zäunen rundherum, auf deren Pfählen abgetrennte Köpfe aufgespießt gewesen seien. [...] Das Vergewaltigen, Plündern und Morden war hier nicht schrecklicher als in anderen Bürgerkriegen; insofern jedoch die Gräuel dieses Krieges durch die Fäden des Aberglaubens mit gewissen dunklen Mächten verknüpft waren, bekamen sie etwas Unergründliches und Grausigeres. Niemand möchte erleben, was Johnson erlebt hatte, niemand der Gewalt ins Auge sehen wie er. Und dennoch ist die Gewalt überall, so wie auch die Liebe und das Bedürfnis sexueller Befriedigung allgegenwärtig sind; heute ebenso wie vor tausend Jahren. Aber das eine gilt uns als Selbstverständlichkeit, als Teil menschlicher Grundausstattung, die nicht erklärungsbedürftig ist, während wir die Gewalt für eine Anomalie halten, die nicht in unser Leben gehört. Warum ist das so? Wir könnten es uns einfach machen und sagen: weil die Gewalt Schmerzen und Angst verursacht, wenigstens bei jenen, die sie zu erdulden haben, und weil Gewaltgelüste ohne das Leiden anderer nicht befriedigt werden können. Aber damit wäre nur die halbe Wahrheit über die Irritation gesagt, die Gewalttaten bei Menschen auslösen, die im Frieden leben. Denn sie vertrauen darauf, nicht Opfer von Gewalt zu werden, weil sie wissen, dass die Staatsmacht Gewalttäter in ihre Schranken weist und Konflikte nicht mit dem Tod der Unterlegenen entschieden werden. So sehr vertrauen sie den Institutionen und ihren unsichtbaren Regeln, dass sie es für das Selbstverständlichste von der Welt halten, nicht umgebracht zu werden, wenn sie am Morgen das Haus verlassen. Damit sie sich, was anderenorts Normalität ist, nicht als eine dauernde Irritation zumuten müssen, erklären sie die Gewalt zu einer Anomalie, die aus dem Leben verschwinden soll. Menschen, die im Frieden leben, sind irritiert, wenn sie von Massakern und Gewalttaten hören, die in ihrer Lebenswelt eigentlich nicht vorkommen. Sie wollen nicht glauben, dass Menschen einander scheinbar grundlos töten, misshandeln oder vergewaltigen, und dass manche dabei sogar Freude empfinden. Denn der Glaube, dass Gewalt unter allen Umständen abweichendes Verhalten ist, hilft Menschen in friedlichen Gesellschaften, sich ihre Wirklichkeit als einen Raum vorzustellen, in dem das Argument über die Faust triumphiert. Man will nicht wahrhaben, dass Menschen sich selbst ermächtigen, Gewalt auszu…


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