Radelnde Nationen

Radelnde Nationen

Einband:
Kartonierter Einband
EAN:
9783593391588
Untertitel:
Die Geschichte des Fahrrads in Deutschland und den Niederlanden bis 1940
Genre:
Kulturgeschichte
Autor:
Anne-Katrin Ebert
Herausgeber:
Campus
Auflage:
1. Aufl. 06.2010
Anzahl Seiten:
495
Erscheinungsdatum:
30.06.2010
ISBN:
978-3-593-39158-8

Die Niederlande sind ein Fahrradland, Deutschland gilt eher als Land der Autobahnen. Wie es dazu kam, schildert Anne-Katrin Ebert in ihrer reichhaltigen Konsum- und Kulturgeschichte des Fahrrads. Mit dem Gebrauch des Fahrrads verband sich eine Fülle von Identitätskonstruktionen und sozialen Unterscheidungsmechanismen. Der menschliche Körper, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, Bürgerlichkeit und Arbeiterschaft sowie deutsche und niederländische Identität - das alles wurde auf und mit dem Fahrrad "erfahren". Am Ende zeigt sich, dass das unterschiedliche Verhältnis zum "Drahtesel" in Deutschland und den Niederlanden vor allem mit den jeweiligen politischen Überzeugungen und gesellschaftlichen Konstellationen zu tun hat - und weniger mit den landschaftlichen Gegebenheiten in beiden Ländern.

Ausgezeichnet mit dem Young Scholars Award 2010 des International Committee for the History of Technology

Autorentext
Anne-Katrin Ebert, Dr. phil., ist Leiterin des Bereichs Verkehr am Technischen Museum Wien.

Leseprobe
3.5 Der feine Unterschied: Ästhetik des weiblichen Radfahrens Die Brisanz der ästhetischen Frage bezogen auf die Radfahrerinnen zeigte sich nicht zuletzt in der Intensität, mit der sich auch und gerade die männlichen Ärzte dieses Themas annahmen. Selbst wenn in vielen Quellen die ästhetischen Aspekte des Männerradfahrens diskutiert wurden, so standen diese Ausführungen in keinem Vergleich zu den Diskussionen über die Frauenbekleidung. Die Frage "Rock oder Hose" inklusive des möglichen Kompromisses des "divided skirt" beschäftigte Ärzte und Radfahrerinnen gleichermaßen. Allerdings äußerte so mancher Arzt Zweifel daran, dass Kleidungsratschläge der Mediziner Gehör finden würden. So begann der niederländische Gynäkologe Hector Treub, Bruder des bekannten Liberalen M.W.F. Treub und Professor für Frauenheilkunde in Leiden und in Amsterdam, leicht resigniert seine Abhandlung über die ästhetische Frage des Frauenradfahrens mit dem Hinweis, die Männer könnten noch so sehr die Hässlichkeit der Rad fahrenden Frauen betonen, es hielte dennoch keine einzige Frau davon ab, weiter Rad zu fahren. Auch wenn er keineswegs allen Rad fahrenden Frauen grundsätzlich mangelnde Attraktivität bescheinigen wollte, so hatte der Arzt doch ein deutliches Feindbild: das "rational dress". Diese Bekleidung sei zwar zweifelsohne am praktischsten für die Rad fahrenden Damen, aber: "Zelfs de Parisienne, de vleesch geworden élégance, ziet er daarin weinig aantrekkelijk uit. Hoe zullen dan onze vrouwelijke landgenooten" Auch Eduard Bertz, der sich ansonsten in Fragen von Bekleidung weltoffen gab und den Rock als Konvention abtat, konnte sich gewissen ästhetischen Bedenken nicht entziehen. Er riet den Frauen, ehrlich zu prüfen, ob ihr Körperbau der Männertracht entgegen komme. Nur bei wohl gebauten Frauen stehe laut Bertz dem Tragen der männlichen Tracht nichts im Wege. Kurarzt Fressel beobachtete in seinem Radfahrhandbuch für Damen von 1897 hingegen, dass die Rockkostüme, trotz ihrer "großen Mängel" noch immer am meisten im Gebrauch seien. Allen ästhetischen Bedenken zum Trotz ermunterte er ausdrücklich zum Tragen der Pumphose, der einfachsten und praktischsten Tracht, denn schließlich gewöhne sich das Publikum an alles: "Unsere Sache ist es, diese Gewöhnung zu beschleunigen." Ganz anders sah dies der Berliner Arzt Ebeling, für den eine Frau in halber Männerkleidung kein schöner Anblick war. Er ging selbstverständlich davon aus, dass bei der Wahl Hose oder Rock jede Dame wohl zum Rock greifen würde. Nicht nur die Ärzte diskutierten ausführlich das Problem der richtigen Kleidung von Frauen auf dem Fahrrad. Auch die entsprechenden Rubriken für Frauen in den Verbandszeitschriften und die speziellen Zeitschriften für Radlerinnen widmeten sich ausgiebig und wiederholt diesem Thema. Nur wenn die Radfahrerin so elegant wie möglich erscheine, warnte bereits ein Artikel in der Rubrik "Voor Sportzusters" in De Kampioen von 1888, würde es möglich sein, andere Frauen für diesen Sport zu begeistern. Zugleich stellte die Autorin fest, dass viele ihrer Freundinnen, die sie zu einer Tandemtour eingeladen hatte, über ihre ungeeignete und lästige Kleidung geklagt hätten. Der Rock der Damen stellte ein schwer zu lösendes Problem dar, denn die Ansprüche an dieses Kleidungsstück glichen einer Quadratur des Kreises. So forderte ein niederländischer Artikel, der Rock dürfe weder zu eng, noch zu weit, noch zu lang, noch zu kurz sein. Vielmehr solle er im "goldenen Mittelmaß" einerseits weit genug sein, um die als hässlich und unelegant empfundene Tretbewegung der Dame zu verbergen, andererseits aber nicht so weit, dass die Gefahr bestünde, dass sich der Stoff in den Speichen verfange oder die Radfahrerin beim kleinsten Gegenwind gleich einem Schiff mit vollen Segeln auf dem Weg daherschlingere. Bezüglich der Länge hieß es, der Stoff müsse beim Treten die Beine bis zu den Knöcheln bedecken, jedoch nicht so lang sein, dass der Rocksaum von den dreckigen Pedalen beschmiert werden könnte oder sich wiederum in den Speichen zu verfangen drohe. Modeentwürfe aus Frankreich, bei denen der Rock der Radfahrerin nur noch bis zu den Knien reichte, lösten bei den niederländischen Autoren nur Entsetzen aus. Bezogen auf die Weite des Rockes empfahl der deutsche Kurarzt Fressel beachtliche 3 Meter als obere Grenze. Da anscheinend viele deutsche und niederländische Radfahrerinnen wenig Bereitschaft verspürten, auf den Rock zu verzichten beziehungsweise dessen Länge grundsätzlich infrage zu stellen, gingen zahlreiche Beiträge auf die unterschiedlichen Tricks ein, mit denen das gefürchtete Flattern und Hochwehen vermieden werden sollte. Eine Methode bestand im Einnähen von Bändern in den Saum, die dann mit dem Rahmen des Fahrrads verknüpft oder zwischen den Füßen verbunden wurden, um so den Rock zu raffen. Dass dies die Beweglichkeit der Frauen beim plötzlichen Absteigen nicht gerade erhöhte, liegt auf der Hand. Auch eingenähte Bleiplättchen oder Schrotkörnchen, manchmal als "Schmetterlinge" bezeichnet, die als Gewichte den Rock nach unten ziehen und das Hochwehen verhindern sollten, beschwerten die Radfahrerinnen mehr, als dass sie ihr Fahrvergnügen verbesserten. Angesichts dieser unbefriedigenden Lösungen konnte es nicht ausbleiben, dass einige die Garderobenfrage grundsätzlicher zu lösen trachteten. Warum sollten Frauen, die doch von Natur aus schon schwächer seien als Männer, sich zusätzlich mit den Röcken abmühen, fragte eine Frau 1893 in der "Damesrubriek" der Zeitschrift De Kampioen erzürnt und fuhr fort: "Rokken, hoe ook bedacht, zijn en blijven voor het wielrijden onpractisch!" Die "zouaven pantalon", also die Pumphose, sei einfach wesentlich praktischer, ermögliche regelmäßiges und kräftiges Treten und mache zugleich aufgrund des verringerten Widerstandes weniger müde als ein Rock. Damit gab sie den Anstoß zu einer hitzigen Debatte unter den Leserinnen, in der sich Befürworterinnen und Gegnerinnen wechselseitig Ahnungslosigkeit in Sachen Radfahren und unweibliches Verhalten bezüglich der Kleidung vorwarfen. In Deutschland höhnte die überzeugte Hosenträgerin und engagierte Radfahrerin Amalie Rother über die Rockträgerinnen, die sich mit ihrem fehlgeleiteten Festhalten an Konventionen auf dem Fahrrad in Todesgefahr brächten: "Man stirbt dann ja allerdings in dem stolzen Bewusstsein, dem Kleide Treue bis zum Tode bewahrt zu haben." Die Hose als Bekleidungsstück galt Ende des 19. Jahrhunderts als Privileg des männlichen Geschlechts. Zwar hatten nordamerikanische Frauenrechtlerinnen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Versuche unternommen, die in der Bewegungsfreiheit stark einschränkende Frauenkleidung mit ihren langen, schweren Röcken und dem einschnürenden Korsett zu reformieren, aber das berühmt-berüchtigte, von Am…


billigbuch.ch sucht jetzt für Sie die besten Angebote ...

Loading...

Die aktuellen Verkaufspreise von 6 Onlineshops werden in Realtime abgefragt.

Sie können das gewünschte Produkt anschliessend direkt beim Anbieter Ihrer Wahl bestellen.


Feedback