Demokratie und Lotterie

Demokratie und Lotterie

Einband:
Paperback
EAN:
9783593387291
Untertitel:
Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU
Genre:
Politische Ideengeschichte & Theorien
Autor:
Hubertus Buchstein
Herausgeber:
Campus Verlag GmbH
Auflage:
1. Aufl. 03.2009
Anzahl Seiten:
493
Erscheinungsdatum:
31.03.2009
ISBN:
978-3-593-38729-1

Theorie und Gesellschaft
Herausgegeben von Jens Beckert, Rainer Forst, Wolfgang Knöbl, Frank Nullmeier und Shalini Randeria

Theorie und Gesellschaft Herausgegeben von Jens Beckert, Rainer Forst, Wolfgang Knöbl, Frank Nullmeier und Shalini Randeria

Autorentext
Hubertus Buchstein ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Greifswald.

Leseprobe
Einleitung Politik und Lotterie - das sind in unserem heutigen Sprachgebrauch zwei miteinander unvereinbare Gegensätze. Wer assoziiert mit Lotterie nicht spontan erst einmal 6 aus 49, eine Tombola oder andere Glücksspiele? Politik soll demgegenüber auf dem genauen Gegenteil zum Spiel mit dem blinden Zufall basieren - sie soll im Idealfall eine Sphäre des vernünftigen Arguments und der klug abwägenden Entscheidung sein. Es ist das Ziel dieses Buches, seine Leser davon zu überzeugen, die strikte Trennungsmauer zwischen Politik und Lotterie aufzubrechen und dem Zufallsmechanismus einen sichtbaren Platz in der modernen Demokratie einzuräumen. Dass die rigide Trennung neueren Datums ist, belegt schon die wortgeschichtliche Überlieferung von Lotterie. Denn ursprünglich wurde das Wort in einem politischen Kontext kreiert. Der Begriff lotteria kam im 12. Jahrhundert in der oberitalienischen Stadtrepublik Genua in Gebrauch, um damit eine neu erfundene Art von Wetten zu bezeichnen, bei der die vor dem Rathaus ungeduldig wartenden Zuschauer Geldwetten darauf abschlossen, wer bei der turnusmäßigen Auslosung der städtischen Ratsherren unter den Angehörigen der tonangebenden Familien zum Zuge kommen würde. Aus dieser Art Zweitnutzung der Ratsherrenauslosungen entwickelte sich das heute weltweit verbreitete Zahlenlotto. Von seinem politischen und republikanischen Ursprung trat das Wort über die französische loterie seinen Siegeszug in die meisten anderen europäischen Sprachen an; bezüglich der deutschen Sprache ist der Import von Lotterie sogar noch um eine Drehung verwickelter. Doch ich will auf das etymologische Hin und Her, das sich in den einschlägigen Lexika genauer nachlesen lässt, nicht weiter eingehen. Es wurde nur erwähnt, weil die wechselvolle Wortgeschichte ein anschauliches Präludium zu dem verwickelten Los des Loses in der Politik liefert. Denn auf Auslosungen stoßen wir in der Geschichte politischer Ordnungssysteme nicht nur in der Antike, sondern auch mehrfach danach und in sehr unterschiedlichen praktischen Handhabungen. Mindestens genauso vielfältig wie seine technischen Varianten waren auch die Funktionen, die das Losverfahren im Rahmen verschiedener politischer Systeme ausübte. Diese funktionale Vielfalt herauszuarbeiten, sie vergleichend zu analysieren und mit Blick auf Anknüpfungspunkte für heute anstehende Demokratiereformen zu betrachten, gehört zu den Zielen dieses Buches. Ein weiteres Anliegen des Buches ist, einen systematischen Überblick über die seit einigen Jahren in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen neu aufgenommenen Debatten über den Sinn oder Unsinn von Losverfahren zu geben. Im Fokus der Aufmerksamkeit steht dabei vor allem die Frage, ob und welche Schlussfolgerungen sich aus diesen Debatten für den Gebrauch von Losverfahren in modernen Demokratien ziehen lassen. Kontroversen über Losverfahren haben zwar eine lang zurückreichende Tradition in der Politischen Ideengeschichte; zwischenzeitlich war das Interesse am Thema Los im 19. und 20. Jahrhundert allerdings nicht nur in der Politischen Theorie, sondern in sämtlichen Zweigen der Politikwissenschaft und auch in ihren Nachbardisziplinen nahezu vollständig erloschen. Zu einem ernsthaft diskutierten Thema ist das Losen erst wieder in den vergangenen vier Dekaden im Zuge der Einführung von Auslosungen für die Jurymitglieder in US-amerikanischen Geschworenengerichten geworden. Seitdem sind verschiedene Arbeiten, die sich mit unterschiedlichen Aspekten von Lotterien beschäftigen, erschienen. In der Philosophie und in der Rechtstheorie entspann sich eine Debatte über Losverfahren und Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Als zweiter disziplinärer Strang entwickelte sich die ökonomisch orientierte Entscheidungstheorie, deren Beiträge von Jon Elster und Fredrick Engelstad in Studien über das Rationalitätspotential von Lotterien zusammengeführt wurden. Einen dritten Strang markieren neuere Arbeiten von James Fishkin, Yves Sintomer und anderen Politikwissenschaftlern, die sich mit praktischen Versuchen beschäftigen, politische Beratungssituationen mit der Zufallsauswahl von Bürgern zu verbinden. Zuletzt hat das Losverfahren in Studien von Bernard Manin und Oliver Dowlen auch das Interesse der Politischen Ideengeschichte gefunden. Meine Überlegungen bauen auf diesen und anderen Arbeiten auf und verdanken ihnen viel. Doch so scharfsinnig die Beiträge von Jon Elster zum Losverfahren in analytischer Hinsicht sind, so unentschlossen ist er, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, ob dem Los in modernen Demokratien ein Platz eingeräumt werden soll oder nicht. Bernard Manin, dem das Verdienst zukommt, die erste größere ideengeschichtliche Aufarbeitung zu Auslosungen vorgelegt zu haben, zeigt an diesem Punkt klarere Konturen. Er deutet die Lotterie als ein radikaldemokratisches Verfahren der griechischen Antike, das in der modernen Demokratie unserer Tage keinen Platz mehr hat und haben soll; demgegenüber möchte ich aufzeigen, dass moderne Demokratien von geschickten Einbauten des Lotteriegedankens profitieren könnten. In zentralen Punkten weiche ich also von beiden Autoren ab, und zwar sowohl was die historische und ideengeschichtliche Deutung von Losverfahren betrifft als auch was die Chancen und Möglichkeiten des zukünftigen Einsatzes von Lotterien in modernen Demokratien angeht. Der Argumentationsgang und die damit verbundene demokratiepolitische Stoßrichtung des Buches lassen sich in fünf Schritten zusammenfassen: 1. Den Beginn macht eine Genealogie politischer Lotterien. Dabei setze ich mich mit der heute vielfach anzutreffenden Deutung auseinander, nach der das Losverfahren ideengeschichtlich mit der Demokratie und die Wahl mit der Aristokratie identifiziert werden. Unlängst hat Jacques Rancière in einer einflussreichen Kritik an der westlichen Demokratie einmal mehr den verlorenen demokratischen Geist von Losverfahren im antiken Athen zelebriert und im selben Atemzug den Vorwurf an die moderne westliche Demokratie gerichtet, sie wäre bestenfalls eine Aristokratie. Solche Sätze mögen in manchen Ohren erfrischend provokant und radikal klingen; zu einem Verständnis der vielfältigen politischen Funktionen von Lotterien in der langen Geschichte politischer Institutionen tragen sie jedoch wenig bei. Noch ärgerlicher ist, dass eine derartige Vereinnahmung der antiken Lotterie durch rhetorische Radikaldemokraten den Horizont der Antworten auf die Frage, ob und wie moderne politische Systeme vom Einsatz des Loses profitieren könnten, in unnötiger Weise verengt. Dagegen möchte ich die Vielfalt der politischen Funktionen von Lotterien nicht nur im antiken Athen und im republikanischen Rom, sondern auch in den späteren oberitalienischen Stadtrepubliken in Florenz und Venedig und ihren späteren Nachklängen herausarbeiten. Durch diese - streckenweise auch historische Detailfragen berührenden - Analysen soll in den ersten Kapiteln des Buches der Blick für die Formenvielfalt und die Multifunktionalität, die Lotterien in der Vergangenheit hatten, geschärft werden. Auch wenn das Losverfahren dadurch an gegenwärtigem radikaldemokratischem Appeal verliert, hat die differenzierte Deutung insofern einen eigenen reformpolitischen Charme, als sie den Blick für potentielle Funktionen von Lotterien in modernen politischen Systemen schärft. 2. In den dann folgenden Kapiteln wird versucht, die disparaten neueren Diskussionsstränge zum Thema Lotterie so aufeinander zu beziehen, dass sie den Hintergrund für eine demokratiepolitische Reformagenda bilden, die nicht mehr nur von einer ei…


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