Alltag, Erfahrung, Eigensinn

Alltag, Erfahrung, Eigensinn

Einband:
Paperback
EAN:
9783593386980
Untertitel:
Historisch-anthropologische Erkundungen
Genre:
Kulturgeschichte
Herausgeber:
Campus
Auflage:
1. Aufl. 11.2008
Anzahl Seiten:
511
Erscheinungsdatum:
30.11.2008
ISBN:
978-3-593-38698-0

Über 30 international renommierte Autorinnen und Autoren reflektieren über die Kultur- und Alltagsgeschichte und geben Anregungen für künftige Forschungen. Mit Beiträgen u. a. von Dipesh Chakrabarty, Geoff Eley, Sheila Fitzpatrick, Jürgen Kocka, Michael Geyer, Gesine Krüger, Hans Medick, Lyndal Roper und Adelheid von Saldern.

Autorentext
Belinda Davis ist Associate Professor am Department of History der Rutgers University in New Brunswick, N. J. Thomas Lindenberger ist stellvertretender Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Michael Wildt ist Historiker am Hamburger Institut für Sozialforschung. Belinda Davis, Thomas Lindenberger, Michael Wildt (Hg.) Alltag, Erfahrung, Eigensinn Historisch-anthropologische Erkundungen

Klappentext
Über 30 international renommierte Autorinnen und Autoren reflektieren über die Kultur- und Alltagsgeschichte und geben Anregungen für künftige Forschungen. Mit Beiträgen u. a. von Dipesh Chakrabarty, Geoff Eley, Sheila Fitzpatrick, Jürgen Kocka, Michael Geyer, Gesine Krüger, Hans Medick, Lyndal Roper und Adelheid von Saldern.

Leseprobe
Erfahrung Dieses Verständnis von Aneignung der Welt als soziale wie individuelle Praxis, als Wahrnehmungs- wie Handlungsweise gegenüber anderen Menschen wie Dingen konturiert in spezifischer Weise den Begriff der Erfahrung. Erfahrung, wie ihn die Autorinnen und Autoren dieses Bandes verstehen, bildet demnach keine lediglich psychologische oder epistemologische Kategorie, sondern besitzt vor allem eine praktische, insbesondere: alltagspraktische, nicht zuletzt sinnliche, körperliche Dimension. Menschen folgen nicht bloß den Codes und Repräsentationen von Bedeutungen und Wirklichkeiten, die sie vorfinden, sondern sie nutzen Bilder, Worte, Praktiken, um sich zu orientieren; sie variieren sie, reiben sich an der Sprödigkeit, Unwillfährigkeit der Dinge wie der Menschen und verändern damit die materielle wie soziale Welt. In unterschiedlichen Gruppen, Familien wie Nachbarschaften, Parteien wie Gewerkschaften, Gemeinden wie Initiativen entstehen nicht nur verschiedene Erfahrungen, es bilden sich auch unterschiedliche Erfahrungsweisen heraus, die nebeneinander wie zugleich existieren und die Differenzen von Gruppen wie Individuen vervielfältigen, verstärken, unterlaufen oder abflachen können. Von Formen ritualisierter, performativer Bestätigung von Männlichkeit, wie sie in Fabriken, Internaten oder Kasernen üblich sind, sind Frauen in der Regel ausgeschlossen, und dennoch sind auch sie in der Lage, mit ihnen umzugehen, durchaus ironisch und dekonstruierend. Der Erfahrung, die Polizei als Gegner und als gewalttätigen Agent des Staates zu erleben, steht der Schutz des Polizisten als Gesetzeshüter bei Übergriffen oder sogar physischen Angriffen gegenüber. Die Erfahrung, die Menschen unter fremder Besatzung machen, was später in symbolischen Erinnerungspraktiken an das Leiden wie an den Widerstand aufgerufen wird, kann durchaus mit ganz anderen Erfahrungen von Individuen oder Gruppen kollidieren, die ihr Durchkommen organisierten oder gar die Besatzungszeit als Phase des Fortkommens und Aufstiegs erlebten. Den nationalen Opfer- wie Heldenerzählungen sind daher stets ganz verschiedene Geschichten eingeschrieben, die in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit unsichtbar und unvermittelt bleiben, aber in den Lebensgeschichten der Einzelnen (Nach-)Wirkung und eigensinnigen Stellenwert behalten können. Scheinbar Abhängige werden in dieser Perspektive zu facettenreichen Akteuren, die zugleich Subjekte wie Objekte sind, die Erfahrungen der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins an Obrigkeiten, Gewalthabern und ökonomischen Zwänge machen, diese Erfahrungen jedoch in jeweils spezifischen, unterschiedlichen oder sogar widersprüchlichen Aneignungsweisen modifizieren, ja in widersetzliche Praxis münden lassen können. Ebenso können aber auch die Erfahrungen von Lust, Partizipation und Wohlstand durchaus mit Repression, Ausbeutung und Herrschaft verbunden sein. Angehörigen der deutschen "Volksgemeinschaft" war es möglich, sich im Zweiten Weltkrieg Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus den besetzten Gebieten als Haus- oder Fabriksklaven zu halten und das Gefühl von Macht und Überlegenheit zu erfahren. Zugleich blieben sie Teil des nationalsozialistischen Terrorsystems, dem sie bei einem Mangel an Konformität selbst zum Opfer fallen konnten. So betrafen drei Viertel aller politischen Urteile in den Jahren 1940/41 den "verbotenen Umgang mit Ausländern und Kriegsgefangenen", vor allem beim Tauschhandel in den Betrieben, der für die Zwangsarbeiter/innen überlebensnotwendig war und für die Deutschen lohnend. Der Begriff der Erfahrung zielt daher nicht allein auf die diskursive Aneignung als Interpretation und Deutung. Alf Lüdtke beharrt auf der sinnlich-materialen Dimension des Handgreiflichen und des Körperlichen in der Geschichte: Schmerz geht nicht in Beschreibung, Aneignung nicht in Diskurs auf. Erfahrung ist kein Text, der dem Körper eingeschrieben wird, sondern Teil von Praxis, die ihrerseits Wahrnehmungsweisen von Dingen und von Menschen verändert. Nach Marx unterscheidet den Baumeister von der Biene, dass er seine Arbeit im Kopf plant, bevor er beginnt. Mit Lüdtke ließe sich über Marx hinaus formulieren, dass er das Handgreifliche seiner Arbeit bewusst erfährt. Materialität der Erfahrung meint nicht zuletzt die Arbeit des Historikers selbst. In den Archiven, im Umgang mit spröden Folianten, brüchigen Papieren, handschriftlichen Notizen drängt sich die stoffliche Seite der Geschichte auf, die ihrerseits die Aufmerksamkeit für das Unbemerkte, Unscheinbare, das Fragmentarische schärft. "Wer kennt nicht diese Sandkörner, die einem beim Umblättern nicht selten drei- oder vierhundert Folioseiten starker Aktenbände immer wieder in die Finger geraten? Gewiss, eine unwirsche Handbewegung säubert die Arbeitsfläche. Jedenfalls sind die Chancen überaus gering, dass eine solche (leichte) Störung der Arbeitsroutine als produktiv empfunden wird, als nützlicher Sand im Getriebe." Vielleicht erzwingen die Sandkörner, so Alf Lüdtke, bei der Aktenlektüre jene Aufmerksamkeit für das Ungleichzeitige, für das Nicht-Narrative, für die nicht aufgeschriebenen (und nicht aufschreibbaren?) Spuren der Geschichte. Mitunter öffnen sie den Blick für die alltäglichen "Archive", wie sie uns auf Flohmärkten mit "Zeug", Spielsachen, Möbelstücken, Lampen, Schallplatten, Essbesteck und Porzellan begegnen - alltägliche, "namenlose", augenscheinlich schriftlose Dinge, deren Stofflichkeit und Gebrauchsspuren es zu entziffern gilt. Diese vielfältigen, eigensinnigen Aneignungsweisen lassen sich nicht allgemein untersuchen, sondern nur im Alltag auffinden. Nur in Analysen konkreter Wahrnehmungs- und Handlungsweisen oder, um einen weiteren Marxschen Begriff aufzunehmen, Lebensweisen ist jene Vielschichtigkeit, Mehrdeutigkeit, auch Ungleichzeitigkeit zu erforschen, die in dem Terminus der Aneignung eingeschrieben ist. Alltag Alltag meint daher keinen Ort, keinen Gegenstand, auch nicht eine Sphäre des Repetitiven, der Routine, die sich vom "Feiertäglichen", Besonderen abhebt. Alltag umreißt vielmehr eine Perspektive, ein Forschungsprogramm, das den Blick richtet auf jene vielfältige Praxis, in der die Menschen ihre Situation wahrnehmen und sich aneignen. "Geschichte von unten zeigt", so Alf Lüdtke, "einen Blickwandel an: Es geht nicht um die Sicht von den Kommandohöhen; zentral sind vielmehr die Praktiken, in denen diese besetzt und befestigt werden, sowie die Lasten und Leiden, die den Vielen zugemutet werden oder die diese sich selbst auferlegen." In den anfänglichen Texten zur Alltagsgeschichte war noch viel die Rede von der Geschichte der "kleinen Leute". Es sollte um das Leben und Überleben, die tägliche Mühsal wie die Widersetzlichkei…


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