Republikanischer Sozialismus

Republikanischer Sozialismus

Einband:
Paperback
EAN:
9783593386003
Untertitel:
Positionen von Bernstein, Kautsky, Jaurès und Blum
Genre:
20. Jahrhundert (bis 1945)
Autor:
Matthias Lemke
Herausgeber:
Campus
Auflage:
1. Aufl. 03.2008
Anzahl Seiten:
433
Erscheinungsdatum:
31.03.2008
ISBN:
978-3-593-38600-3

Eduard Bernstein und Karl Kautsky, Jean Jaurès und Léon Blum waren nicht nur Sozialisten, sondern auch entschiedene Demokraten - und als solche Gegner des Totalitarismus. Matthias Lemke stellt dar, mit welchen Überzeugungen sich die deutschen und französischen Sozialisten der kommunistischen Revolution verweigerten. Dabei wird deutlich, dass ihre antitotalitären Argumente nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben und auch zu heutigen Demokratiedebatten wichtige Beiträge liefern können.

Autorentext
Matthias Lemke, PD Dr., lehrt Politikwissenschaft an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg und ist Forschungsstipendiat am Deutschen Historischen Institut Paris.

Leseprobe
1.3 Revolutionäre Ungeduld Revolutionäres Pathos wiederum schlägt sich häufig im Medium der Sprache nieder. Sprache im Dienste einer politischen Sache wird dann schnell zu Pro-paganda, sie wird als agitatorisches Mittel missbraucht. Ein Beispiel dafür liefern die folgenden Sätze: "Ja, wir wollen einig sein. Gerechtigkeit über alles []. Das ist, was mir das Herz warm macht: der Gedanke, dass wir die Spießbürger bald hinwegfegen werden." Oder auch: "Doch wir begreifen, dass es für uns keine Besserung gibt, solange die Dinge so gehen, wie sie gehen, und darum werden früher oder später die Arbeiter sich entschließen müssen, einen anderen Weg einzuschlagen." Und noch: "Die Lohnarbeit ist eine neue Form der Sklaverei. Die Grube muss dem Bergmann gehören, wie das Meer dem Fischer, die Erde dem Bauern gehört []. Hört ihr, die Grube gehört euch, euch allen, die ihr seit einem Jahrhundert sie mit so viel Blut und Elend bezahlt habt!" Diese Sätze der Unversöhnlichkeit könnten gut von Lenin stammen, er hat sie aber nie gesagt. Tatsächlich stehen sie in Émile Zolas Germinal und es ist der Maschinist Étienne Lantier, der sie mit einem an Rosa Luxemburgs "Il le faut, il le faut!" erinnernden Ausruf aus dem Innersten gequält, gedemütigt, ohn-mächtig und wütend, hervorstößt: "Oh, es ist Zeit! Es ist Zeit!" . Für Lantier ist es an der Zeit, dass die sich in der nordfranzösischen Mine Le Voreux ver-dingenden Bergleute, aufs Elendste im Dorfe der Zweihundertvierzig dahinvege-tierend, in einem Streik gegen die ihnen aufoktroyierten Arbeitsbedingungen widersetzen. Doch wie Goethes Zauberlehrling wird auch Lantier die Kräfte, die er rief, nicht mehr los. Die im Streik mit der Verheißung entfesselte Gewalt, die Bergleute würden "schließlich doch die Stärkeren sein" , entfaltet ihre autodestruktive Wirkung und schlägt gegen die Bergleute zurück. Der von Georges Sorel idealisierte, reine proletarische Streik endet in der Katastrophe: Nach dem Exzess der Gewalt ist das Leben im Dorf zwar radikal, jedoch auf tragische Weise anders. Die Lebensbedingungen, um derentwillen mit dem Mi-nenbesitzer gerungen wurde, sind hingegen um keinen Deut besser. Wie konnte es soweit kommen? müsste man Lantier fragen. Und vermut-lich würde er für das Ausufern dieser Handlungen der Wildheit (Georges Sorel) wohl keine Begründung wissen. Vielleicht steckt eine Antwort, die eine Ein-sicht in die Konfliktlogik ermöglicht, aber in den Schriften Lenins. Denn die Problematik, die sich in Russland ab dem 24.10.1917 alten Stils entfalten sollte, ist der in Zolas Germinal beschriebenen Konstellation prinzipiell sehr ähnlich. Die programmatischen Ansätze der leninistischen Strategie gehen, so-weit sie politiktheoretisch fassbar sind, auf das Jahr 1901/02 zurück. In dieser Phase erschienen in einem Abstand von nicht einmal zehn Monaten die beiden zentralen Handlungsrichtlinien für die russische Sozialdemokratie. Zeit-gleich mit dem Beginn der Arbeiten an seinem Buch Was tun? veröffentlichte Lenin Mitte Mai 1901 in der vierten Ausgabe der im Untergrund gedruckten Parteizeitung Iskra ("Der Funke", erstmals 1900 erschienen) den Aufsatz Womit beginnen?, an dessen Beginn wiederum die Frage nach dem Was tun? steht: "Die Frage Was tun? drängt sich in den letzten Jahren den russischen Sozialdemo-kraten mit besonderer Kraft auf. Es handelt sich dabei nicht um die Wahl des Weges [], sondern darum, welche praktischen Schritte wir auf dem erkann-ten Wege tun sollen, und auf welche Art wir sie tun sollen. Es handelt sich um das System und den Plan der praktischen Tätigkeit." Dieser Entwurf zur praktischen Politikgestaltung richtete sich an die noch junge und im wesent-lichen im Ausland tätige Sozial-Demokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR). Zwar hatte Georgi W. Plechanow (1856-1918) schon 1883 die marxistisch und antiterroristisch eingestellte Gruppe Befreiung der Arbeit gegründet. Unter den Zaren Alexander III. und Nikolaus II. verstärkten sich jedoch innerhalb des Staates autoritäre Tendenzen, so dass ein Klima der Verfolgung entstand, dem sich besonders sozialistische Gruppierungen ausgesetzt sahen, die genuin sys-temoppositionell eingestellt waren. So konnte die SDAPR 1898 in Minsk ge-gründet werden, ihr strategisches und politisches Zentrum lag jedoch in West-europa. Lenin, mit Leo D. Bronstein (gen. Trotzki, 1879-1940) eine der führenden Figuren des radikalen Flügels der SDAPR ("Bolschewiki"), stellte, durch das Exil geschützt, mit seinem Aufsatz einen konkreten Plan zum Auf-bau einer revolutionären Partei der Arbeiterklasse vor, an dem er in seinem im März 1902 in Stuttgart erschienenen Buch Was tun? noch weitere Nuancierun-gen vornahm. Dass Lenin dabei den Titel eines Romans des radikal-sozialisti-schen Schriftstellers Nikolai G. Tschernyschewskij (1828-1889) übernahm, kann durchaus paradigmatisch gedeutet werden. Denn die brennenden Fragen un-serer Bewegung, so der Untertitel, kreisten allesamt um eine nicht wenig brisante Grundannahme, die Lenins gesamten Politikentwurf durchzieht und ihn quali-tativ bestimmt. Dieses Ur-Dilemma seiner politischen Strategie liegt in der ebenso radikalen wie problematischen Trennung von Volk und Politik: Lenin misstraut einer Regierung durch gewählte Volksvertreter, eine machtpolitisch verständliche Position angesichts des sich nach der Oktoberrevolution an-bahnenden Bürgerkriegs. Damit steht das Prinzip des Machterhalts in der Priorität klar vor einem generativen, auf Partizipation beruhendem Politikbe-griff. Sein Politikverständnis fußt auf der Entmündigung und Unterordnung oder Anleitung des Volkes unter bzw. durch eine politische Elite und ist somit elitär, autoritär und doktrinär, nicht aber dialogisch. In Womit beginnen? klingt dieser funktionale Totalitarismus noch harmlos. Zunächst gehe es darum "einen bestimmten Plan der Organisation auszuarbeiten" steht da zu lesen. Darüber hinaus erscheint es unerlässlich, auf Grundlage der angeregten politi-schen Organisation zu Agitationszwecken "eine gesamtrussische politische Zeitung" zu schaffen. Wenn es dann aber heißt, der nächste Schritt müsse sein, "in allen einigermaßen bewussten Volksschichten die Leidenschaft für politische Enthüllungen zu wecken" dann tritt hier ein qualitativer Unter-schied zwischen politisch mehr und politisch weniger begabten Personen zu Tage, der dem demokratischen Verständnis gleichberechtigter und potenziell zur Teilhabe befähigter Staatsbürger widerspricht. Besonders deutlich wird dieser qualitative Unterschied in der von Lenin in diesem Zusammenhang ge-brauchten Metaphorik. So sollten "Leute, die fähig und bereit sind" , also die "talentiertesten politischen Führer der Partei" , die sozialdemokratischen Zei-tungen als Tribüne nutzen, um das Volk politisch zu erziehen. Die hier kon-zeptionell vertretene Asymmetrie von Herrschenden und Beherrschten, die sich in einem Unterdrückungssystem schon zu Lenins Lebzeiten niederschlug, ist schon in diesem frühen Iskra-Artikel in nuce angelegt.

Inhalt
Vorwort 1. Was tun? Die Versuchung kommunistischer Ungeduld und progressiver Gewalt 1.1 Geschichtshermeneutik des Sozialismus 1.2 Schisma: Revo…


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