Neue Judenfeindschaft?

Neue Judenfeindschaft?

Einband:
Paperback
EAN:
9783593381831
Untertitel:
Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus
Genre:
Sozialpädagogik & Soziale Arbeit
Herausgeber:
Campus Verlag GmbH
Auflage:
1. Aufl. 09.2006
Anzahl Seiten:
378
Erscheinungsdatum:
30.09.2006
ISBN:
978-3-593-38183-1

Jahrbuch 2006 des Fritz Bauer Instituts

Viele Jahre wurde Antisemitismus als eine historische Erscheinung behandelt, die mit der »Bewältigung der NS-Vergangenheit« überwunden zu sein schien. Heute bilden Auseinandersetzungen um Globalisierung und Kontroversen zum Nahostkonflikt den Hintergrund antisemitischer Äußerungen. Dabei werden althergebrachte antisemitische Muster aufgegriffen und mit neuen Varianten ausgestattet. Das Jahrbuch analysiert die aktuellen Formen des Antisemitismus und schildert Erfahrungen aus pädagogischen Projekten. Mit Beiträgen von D. Akhanli, W. Bergmann, J. Bürgin, G. Chernyak, A. Demirel, S. Diederich, M. Eckmann, R. Fava, B. Fechler, T. vonFranzecki, E. Gryglewski, S. Harms, C. Kaletsch, G. Kößler, U. Kux, A. Messerschmidt, H. Oppenhäuser, M. Perels, H. Radvan, I. Rosensaft, B. Schäuble, A. Scherr, N. Tietze und N. Wagenknecht

Vorwort
Jahrbuch 2006 des Fritz Bauer Instituts

Leseprobe
Diskussionen über Antisemitismus haben etwas von Ebbe und Flut. Entweder sie sind weit weg oder ganz nah. Kommen sie nah, redet alle Welt für ein paar Wochen oder Monate von fast nichts anderem. Nach unzähligen Appellen, unverzüglich zu handeln, aus der Geschichte zu lernen, nicht wegzusehen, bleibt Überdruss angesichts einer so hochtourigen emotionalen Debatte. Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches im Sommer 2006 haben wir wieder Ebbe. Das Thema Antisemitismus ist nach einer intensiven Diskussion in den Jahren 2003 bis 2005 von den öffentlichen Auseinandersetzungen um "Islamophobie" und um "die mangelnde Integrationsbereitschaft von Migranten" abgelöst worden. Im allgemeinen Bewusstsein ist von der Themenkonjunktur der Debatten über Antisemitismus nicht viel geblieben. Das vorliegende Buch unternimmt den Versuch, einen Zwischenstand der Diskussionen und konzeptionellen Entwicklungen unter engagierten Pädagogen zu dokumentieren. Die Debatte unter der Fragestellung "Gibt es einen neuen Antisemitismus?" wurde zuletzt vor allem unter zwei Gesichtspunkten geführt. Zum einen, inwieweit sich eine Form des Antisemitismus mit besonderem Bezug auf Israel gebildet habe, und zum anderen, ob diese im Wesentlichen von jungen, auf einen muslimischen Kontext bezogenen Migranten ausgehe. Während bis zur Jahrtausendwende die pädagogische - genau wie die öffentliche - Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus im vereinten Deutschland unter einer dominant herkunftsdeutschen Perspektive stattfand und Funktionen des "Nation Building" erfüllte - wobei Migranten und ihre Geschichts- und Gegenwartsbezüge kaum eine Rolle spielten -, tendierte die jüngste Debatte eher dazu, auf Migranten als "Troublemaker" zu fokussieren und in der deutschen Gesellschaft vorhandene erinnerungspolitische Kontinuitäten und familiäre Bindungen an die NS-Volksgemeinschaft auszublenden. Die Emotionalität der Debatte, in der diskursive Frontenbildungen, gegenseitige Verdächtigungen und Diffamierungen des jeweiligen Kontrahenten nicht selten waren, und die Beobachtung, dass auch die pädagogische Diskussion nicht frei von den ideologischen Grabenkämpfen der politischen Bühne ist, verweisen auf ein moralisch und identitär hoch aufgeladenes Diskursfeld. Zugleich ist die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Formen von Antisemitismus in der Breite pädagogischer Theorie- und Konzeptionsbildung bisher kaum angekommen. Nach wie vor besteht die Ansicht, dass die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Antisemitismus hinreiche, um auch auf gegenwärtige Formen von Antisemitismus zu reagieren, und es herrscht die Vorstellung, man habe den nationalsozialistischen Antisemitismus im Bildungswesen angemessen aufgearbeitet. Die wiederholt geäußerte Erwartung, von Gedenkstätten möge eine volkspädagogische Wirkung ausgehen, gehört zu diesem Phänomen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit globalisiertem Antisemitismus präsentieren Ausgangspunkte und Ansätze pädagogischen Handelns gegen Antisemitismus aus unterschiedlichen Theorie- und Praxisfeldern. Mit dem programmatischen Anspruch, zu einer pädagogischen Auseinandersetzung mit globalisiertem Antisemitismus beizutragen, bemühen wir uns um dreierlei: Erstens soll eine pädagogisch orientierte Theorie-Praxis-Reflexion erreicht werden. Zweitens wird die Heterogenität der Standpunkte und Lebenslagen von Jugendlichen und Erwachsenen in einem Land in den Blick genommen, das in der Täternachfolge des Holocaust steht und das zu einem Einwanderungsland geworden ist. Drittens geht es um die Analyse sowohl der problematischen Haltungen der Adressaten pädagogischer Arbeit als auch der pädagogisch Handelnden selbst - und zwar als Teil einer deutschen Gesamtproblematik. Die aktuellen Formen von Antisemitismus sind aus der Sicht der Herausgeber als "globalisierte" zu beschreiben. Damit soll ebenso auf die Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Formen von Antisemitismus aufmerksam gemacht werden wie auf die Unterschiede in der Artikulation und Motivation antisemitischer Äußerungen, die teilweise an verschiedene Diskurs- und Erinnerungsgemeinschaften gebunden sind. Gerade weil antisemitische Argumentationen situative Bündnisse zwischen unterschiedlich motivierten Sprechern ermöglichen, ist es für eine pädagogisch angemessene Auseinandersetzung mit Antisemitismus unerlässlich, die Nuancierungen dieser Motivationen zu erkennen, sie einzuordnen und anzusprechen. Der Spagat für die pädagogisch Handelnden besteht dabei darin, dass einerseits - um mit den Lernenden im Gespräch zu bleiben - der Antisemitismus nicht in Form einer Beschuldigung angesprochen werden darf, andererseits antisemitische Argumente als antisemitisch und deshalb inakzeptabel benannt werden müssen. Diese Haltung markiert den doppelten Anspruch an die Bildungsarbeit, Position gegen Antisemitismus zu beziehen und dabei die Lernenden nicht aus dem Lernprozess auszuschließen. Heterogene, aus Lernenden mit und ohne Migrationshintergrund zusammengesetzte Gruppen sind in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit Normalität. An die Stelle der über lange Jahre auch in erziehungswissenschaftlichen Diskursen vorherrschenden Normalisierungsperspektive ist in den vergangenen Jahren eine kritische Reflexion der Ausgrenzungsprozesse innerhalb einer auf Integration zielenden Pädagogik getreten. Statt Alterität unter dem Gesichtspunkt der Abweichung und des problematischen Andersseins zu betrachten und "Wissen über Andere" als ein Wissen herauszubilden, das von sich selbst absieht und zugleich eigene Vorstellungen auf Andere projiziert, werden nun die Wirkungen machtvoller Prozesse der Identifizierung und kulturalistischer Zuschreibungen analysiert. (vgl. Höhne 2001) Es bildet sich eine Perspektive heraus, in der "kulturelle Differenzen" "nicht als unabhängige Ursache, sondern als Bestandteil und Effekt von Prozessen der Segregation, Benachteiligung und Diskriminierung" (Hormel/Scherr 2004b, S. 35) in einer Konstellation von Mehr- und Minderheiten, Etablierten und Außenseitern, Machtlosen und Machtvolleren gesehen werden. Im Unterschied zu einer nach wie vor im Mainstream öffentlicher Bildungsdebatten gängigen Problematisierung derjenigen, die als "anders" gelten, wird hier ein Diskurs entwickelt, der auf die Analyse der Bedingungen von Zugehörigkeit und Partizipation ausgerichtet ist. Für den pädagogischen Umgang mit Antisemitismus in heterogenen Lerngruppen bedarf es einer Aufmerksamkeit dafür, dass mit antisemitischen Topoi Zugehörigkeit und Erfahrungen der Nichtzugehörigkeit verhandelt werden. Die Äußerung von Antisemitismus eignet sich dabei sowohl zur Provokation und zur Differenzmarkierung als auch zum Erzeugen von Zustimmung. Antisemitische Projektionen werden auf einem Terrain artikuliert, auf dem die Zugehörigkeiten umkämpft sind und auf dem an verschiedene…


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