Gefühlte Nähe

Gefühlte Nähe

Einband:
Fester Einband
EAN:
9783570100066
Untertitel:
Roman in 23 Paarungen
Genre:
Erzählende Literatur & Romane
Autor:
Harald Martenstein
Herausgeber:
Bertelsmann C.
Auflage:
Originalausgabe
Anzahl Seiten:
224
Erscheinungsdatum:
30.08.2010
ISBN:
978-3-570-10006-6

Harald Martensteins neuer Roman besticht durch eine genaue Beobachtung des Paarungsverhaltens im ausgehenden 20. Jahrhundert. Er beschreibt 23 Männer in archetypischen Situationen, die eines gemeinsam haben: dieselbe Frau; eine Frau, die wir nur als N. kennenlernen. An ihrem Liebesleben und Lebenslauf reiht Harald Martenstein die unterschiedlichen Männer wie Verhältnisse auf ein Roman in 23 Liebesabenteuern. Die Geschichten und Situationen ergänzen sich, zeigen Verhaltensmuster, ergeben eine Sittengeschichte im Privaten aber sie sind vor allem eins: überraschend komisch und eigensinnig. »Gefühlte Nähe« ist die Vermessung der Tiefen und Untiefen des uns bekannten Beziehungskosmos.

Ein ebenso kurzweiliger wie kluger Roman über die Liebe.

Autorentext
Harald Martenstein, geboren 1953, ist Autor der Kolumne »Martenstein« im »ZEITmagazin« und Redakteur beim Berliner »Tagesspiegel«. 2004 erhielt er den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Sein Roman »Heimweg« wurde im September 2007 mit der Corine ausgezeichnet, 2010 erhielt er den Curt-Goetz-Ring. Zuletzt erschien der Band »Der Titel ist die halbe Miete«.

Leseprobe
Einmal in der Woche traf Rühl sich mit Sybille Bär, einer geschiedenen Kollegin aus dem Droste-Hülshoff-Gymnasium, und schlief mit ihr, was er sehr angenehm fand. Mit seinem großen Projekt, einem Liebesroman, war Rühl seit Monaten nicht vorangekommen. Ihm fehlte die innere Ruhe. Auf den Straßen wurde demonstriert, Terroristen verübten Anschläge. Die Amerikaner hatten den Mond erobert, an der Eroberung von Vietnam waren sie gescheitert. Das Ende des Krieges konnte nur noch eine Frage von Monaten sein. Rühl hatte den Eindruck, dass dies eine aufregende Zeit war, aber ihm fehlte der Zugang zu diesen Dingen. Er konnte sich für die Zukunft nicht begeistern. Trotzdem las er gründlicher Zeitung als früher und schaute regelmäßig die Nachrichten im Fernsehen. Allmählich schien die Unruhe auch die Schule zu ergreifen, manchmal sah er am Morgen vor dem Schultor junge Männer, wahrscheinlich Studenten, die Flugblätter verteilten. Einmal hatte auch er ein Flugblatt genommen. Die Männer verlangten, dass verhaftete Terroristen als Kriegsgefangene angesehen würden.
Rühls Unterricht war beliebt. Er hörte das von Kollegen. Stolz war er darauf nicht, seiner Ansicht nach war er kein guter Lehrer. Die Schüler wurden von ihm in Ruhe gelassen, das mochten sie. Er ging in das Klassenzimmer, grüßte, setzte sich und sprach nahezu die gesamten fünfundvierzig Minuten lang. Nur selten stellte er eine Frage. Während er redete, malte er auf einem Blatt Papier, das vor ihm lag, geometrische Figuren. In der ersten Stunde hatte er gesagt: »Sie können mir zuhören, Sie können es auch lassen. Wenn Sie während des Unterrichts etwas anderes tun möchten, setzen Sie sich bitte nach hinten und versuchen Sie, leise zu sein.«
Rühl trug immer einen Anzug. Er sprach halblaut, sodass er nur in den ersten Reihen gut zu verstehen war. Die meisten Schüler lasen, machten Hausaufgaben für andere Fächer oder unterhielten sich. Wenn ihm das Gesumm der Gespräche zu laut wurde, verstummte Rühl für einige Minuten, er stand dann auf, ging zum Fenster und schaute hinaus, bis es ruhiger geworden war.
Zu dieser Zeit behandelte er Kleist, einen Dichter, den er heimlich verachtete, nicht wegen seines Werkes, das natürlich hochrespektabel war, sondern wegen seines theatralischen Endes. Heinrich von Kleists Selbstmord am Wannsee, mit dem er die Welt und seine große Liebe zu beeindrucken versuchte - nun, das war dumm, aber letztlich seine Sache. Kleist hatte allerdings eine junge Frau, Henriette Vogel, die er noch gar nicht lange kannte, dazu überredet, mit ihm in den Tod zu gehen. Diese Frau war verheiratet, hatte ein Kind, war allerdings schwer krank und dementsprechend verzweifelt, das ideale Opfer für einen Romantiker, der Blut sehen will. Kleist hatte zuerst Henriette Vogel erschossen, dann erst Hand an sich selber gelegt. Henriette Vogel war eine Geisel, die hingerichtet wurde, um die Welt zur Hochachtung für einen überspannten Literaten zu erpressen. Starke Gefühle und Revolutionen führten nach Rühls Ansicht im Allgemeinen zum gleichen Ergebnis, Terror und Unglück.
Wer kann schon die Grenze ziehen zwischen sogenannter Liebe und Narzissmus? Sicher ist bei so etwas nur, dass es Verluste gibt, der Gewinn ist ungewiss.
In Rühls Roman sollte es um ein Paar gehen, das zu Beginn leidenschaftlich verliebt und vollkommen unglücklich ist, am Ende sollten sie einander gleichgültig und hochzufrieden sein.
Die Liebe, das war natürlich etwas, das fast alle anstreben, eine Utopie, ein Ideal. Rühl hatte vor, dieses Phänomen mit anderen Utopien und Idealen zu vergleichen, dem Sozialismus, dem Frieden, dem Wohlstand für alle. Diese Ziele klangen alle gut und entfalteten trotzdem in der Regel eine destruktive Wirkung, wenn man sie zu ernst nahm. Viel weiter war er mit seinen Überlegungen noch nicht gekommen.
Der Klassenfahrt sah Rühl mit bösen Ahnungen entgegen. Die Schüler würden abends in ihren Zimmern trinken und feiern, von ihm würde man erwarten, dass er auf die Einhaltung der Regeln bestand. Er würde laut werden müssen und dabei lächerlich wirken, vielleicht würde er auch den Dingen ihren Lauf lassen und hinterher von den Eltern und dem Direktor mit Vorwürfen überzogen werden. Ein erfreulicher Verlauf der Klassenfahrt lag jenseits seiner Vorstellungskraft. Die zweite Begleitperson, eine Kollegin kurz vor der Pensionsgrenze, Sport und Biologie, war zum Glück eine resolute Person, auf ihr ruhten Rühls ganze Hoffnungen.
Sie fuhren zu einer Burg am Rhein, die zu einem Begegnungszentrum und Schullandheim ausgebaut worden war. Am ersten Nachmittag besichtigten sie ein römisches Kastell, was die Schüler mit erwartungsfroher Gelassenheit über sich ergehen ließen. Der Rest des Tages war mit der Verteilung der Betten in den Zimmern ausgefüllt, ein stundenlanges Hin und Her, Geschrei, Palaver. Zwei- oder dreimal wurde Rühl gebeten, einen Streit zu schlichten, aber er zuckte nur mit den Achseln. Entweder wurde so etwas von den Lehrern entschieden, oder die Schüler organisierten es selber. Darum hatten sie gebeten, er hatte zugestimmt, was wollten sie jetzt von ihm.
Beim Abendessen saßen die Kollegin und er an einem separaten Tisch. Die Herbergseltern trugen Wurst, Käse und Mixed Pickles auf.
Rühl hätte gern ein Bier getrunken. Aber er wollte kein schlechtes Beispiel geben, also holte er sich eine Flasche Zitronenlimonade und trug seinen Namen in die Liste ein, die neben den Getränkekisten an der Wand klebte. Vier Tage sollte der Aufenthalt dauern, bis zum Donnerstag. Rühl hatte, um nicht in den letzten Kriegstagen noch an die Front geschickt zu werden, als sehr junger Mensch vier Tage in einem Luftschutzbunker verbracht, angeblich verletzt, mit einem dicken Kopfverband, ohne Toilette, das habe ich auch überstanden, sagte er sich. Den Freitag würde er zum Glück frei haben. Er nahm sich vor, Sybille Bär anzurufen und sich für den Freitagabend mit ihr zu verabreden.
Als er in sein Zimmer eintrat, eigentlich eher eine Kammer, am Ende des Ganges, sah er, dass auf seinem Bett ein Päckchen lag. Es war etwas kleiner als eine Schokoladentafel und sehr bunt. Auf dem Papier klebten bunte Prilblumen. Das Päckchen enthielt eine Musikkassette und einen Brief.
»Lieber Dr. Rühl! Ich hoffe, die Musik gefällt Ihnen. Seien Sie nicht böse. Sie sind mein Lieblingslehrer. Es war an der Zeit, dass ich auch einmal etwas für Sie tue. N.«
In den beiden Klassen gab es nur zwei Mädchen, deren Vornamen mit einem »N« begannen, eine Schüchterne, Unscheinbare, Dämliche und eine gazellenhafte, ständig von Jungs umschwärmte Schönheit, obendrein die beste Schülerin des Jahrgangs. Dies hier passte wohl eher zu dem dämlichen Exemplar. Trotzdem war Rühl sicher, dass seine Verehrerin die schöne, kluge N. aus der Unterprima B war. Diese N. gehörte zu…


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