Hundert Tage

Hundert Tage

Einband:
Taschenbuch
EAN:
9783442739035
Untertitel:
Roman
Genre:
Belletristik & Unterhaltung
Autor:
Lukas Bärfuss
Herausgeber:
BTB Tb.
Anzahl Seiten:
208
Erscheinungsdatum:
01.02.2010
ISBN:
978-3-442-73903-5

Eine schicksalhafte Liebe in Zeiten des Krieges: packend, brisant, eindringlich

Voller Optimismus war der junge Schweizer Entwicklungshelfer David 1990 nach Ruanda aufgebrochen, ins damalige Vorzeigeland des afrikanischen Kontinents. Vier Jahre später sind alle Hoffnungen zerschellt: das Land wird zum Schauplatz eines furchtbaren Genozids. David muss miterleben, dass seine Geliebte Agathe, Tochter eines Ministerialbeamten, zu den Mördern zählt. Und auch David, der Gutmensch, wird schließlich zum Komplizen, um seine eigene Haut zu retten.

Politische Romane wie dieser, mit solcher Wucht und Dringlichkeit, werden in der deutschsprachigen Literatur nur selten geschrieben

Autorentext
Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun/Schweiz, ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Dramatiker. Seine Stücke werden weltweit gespielt. Sein Debütroman »Hundert Tage« wurde ein enormer Erfolg, der für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis nominiert war und in 15 Sprachen übersetzt wurde. Für seinen Roman »Koala« erhielt Lukas Bärfuss den Schweizer Buchpreis 2014. Er lebt in Zürich.

Zusammenfassung
»Ein packend, oft überwältigend dicht erzählter Roman.« Volker Hage, Der Spiegel

Leseprobe
Sieht so ein gebrochener Mann aus, frage ich mich, als ich ihm gegenbersitze und draun der Schnee einsetzt, der seit Tagen erwartet wird und nun in feinen Flocken auf die grnbraunen Felder und in den Nachmittag ft. Was genau gebrochen sein knnte, ist schwierig zu sagen - das Rckgrat jedenfalls nicht. Er sitzt aufrecht, wt seine Worte mit Bedacht und ohne Hast, wirkt beinahe entspannt. Nur wie er die Tasse zum Mund fhrt, gemlich, ein wenig zu gemlich, zu gefhrt, knnte ein Hinweis auf seine innere Zerrttung sein. Vielleicht frchtet er, ein verschtteter Tropfen knnte ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Ich wei ich msste nicht mutman, denn er ist ein gebrochener Mann, muss einer sein, nach allem, was er erzt und - was noch wichtiger ist - nach allem, was er mir verschweigt.
Manchmal h er in seiner Rede inne, oft mitten im Satz. Ich sehe in seinen Augen, wie er sich erinnert, nur erinnert und nicht spricht, vielleicht, weil er keine Worte dafr hat, sie noch nicht gefunden hat und wohl auch nicht finden will. Es scheint, als wrden seine Augen den Ereignissen folgen, den Ereignissen in Haus Amsar, wo er die hundert Tage verbracht hat. Das Erstaunlichste an dieser Geschichte ist, dass gerade er sie erlebt hat, einer, der nicht
dazu bestimmt schien, irgendetwas zu erfahren, das ber das gewhnliche Mamenschlicher Katastrophen hinausgeht: eine ble Scheidung, eine schwere Krankheit, ein Wohnungsbrand als rstes. Aber ganz gewiss nicht, in die Wirren eines Jahrhundertverbrechens zu geraten. Nicht dieser Mann, nicht David Hohl, der mit mir zur Schule gegangen war und in dem ich noch den hoch aufgeschossenen Knaben erkenne, mit seiner leicht henden Unterlippe, von der sich, wenn ihn etwas zum Staunen bringt, ein Speichelfaden zu lsen scheint, obwohl das natrlich nie eintritt. Bloein wenig feucht ist diese Lippe, der man deutlicher als anderen ansieht, was Lippen tatslich sind, nach aun gestlpter Mundinnenraum nich.
Als Kind war er kein Draufger, hat niemals grren ger riskiert, nicht aus Feigheit - die meisten Abenteuer und Mutproben schienen ihm einfach nicht lohnenswert. Ein durch und durch besonnener Bursche - abgesehen von seinen drei, vier Anfen, aber die liefen aur Konkurrenz, einfach weil sie so selten vorkamen und man sich erst an den letzten erinnerte, als David schon erblasste, verdtig still wurde, um gleich darauf rot anzulaufen und seine Flche hervorzupressen und eine Schandrede auf die Ungerechtigkeit der Welt anzustimmen, in Worten, die man einem Jungen von zehn, zwlf Jahren nicht zugetraut he. Er besaein ausgepres Gerechtigkeitsempfinden, um es vorsichtig auszudrcken, und es schien losgelst von jener Vernunft zu funktionieren, die ihn sonst auszeichnete, keine Folge einer durchdachten Weltsicht zu sein, sondern reine Empfindung, ein Affekt. Ich erinnere mich, wie er sich von ein paar Kerlen aus den oberen Klassen windelweich prgeln lie bloweil er zufig gehrt hatte, wie sie sich abfig ber einen Mitschler auslien, und er der Ansicht war, so etwas gehre sich nicht. Nach der Pause setzte er sich mit der blutigen Nase an sein Pult, und als ihn der Lehrer zum Waschbecken schickte, weigerte er sich aufzustehen und meinte, er sch sich nicht fr seine Verletzung.
Wir hatten keine Ahnung, was ihn antrieb, aber wir vermuteten, David wolle mit seinem heldenhaften Einstehen fr die gerechte Sache Eindruck schinden, vor allem bei den Mhen. Und beunruhigenderweise hatte er damit Erfolg, weswegen wir ihn zwar fr verrckt, aber nicht fr vollkommen bergeschnappt hielten. Vielleicht hat ihn diese charakterliche Besonderheit in die spren Schwierigkeiten gebracht, und ich frage ihn, ob er sich als Kfer fr die Gerechtigkeit gesehen habe. Er lelt und nimmt einen Schluck Kaffee, bevor er spricht, als bekenne er, einmal an fliegende Untertassen oder die Existenz von Atlantis geglaubt zu haben.
Ich habe an das Gute geglaubt, ich wollte den Menschen helfen wie alle von der Direktion, und nicht nur, um einen Einzelnen aus der Misere zu ziehen, sondern um die Menschheit weiterzubringen. Entwicklung hiefr uns nicht nur Entwicklung der Wirtschaft, Bau von Stran, Aufforstung. Es war fr uns die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins hin zur universellen Gerechtigkeit.
Aber das erkl nicht, weshalb du geblieben bist, wage ich einzuwenden, warum du nicht mit den anderen geflohen bist, als klar war, dass die Sache in einem Blutbad enden wrde.
Er schaut hinaus in das Schneetreiben, jede Flocke ein Gedanke, und sagt, so sicher war das fr mich nicht. Und ich wollte bei Agathe bleiben, aber manchmal denke ich, es lag nur an Pauls Schuhen. Wanderschuhe, mit roten Schnrsenkeln, gewichst, mit starkem Profil, Schuhe, die einen berall hintragen, auf die hchsten Gipfel, durch die tiefsten Schluchten. All die Jahre hatte der kleine Paul stets Sandalen getragen, feste, mit dicker Sohle, aber eben doch Sandalen, die auf ihre Weise ausdrckten, wie grosein Vertrauen in dieses Land war. Keiner hatte etwas zu befrchten, nicht einmal die F. Und drei Tage vor unserer Evakuierung sah man ihn pltzlich in Wanderschuhen, die ihn heil aus diesem Land bringen sollten, und ich sche mich bei dem Gedanken, dass die ganzen Jahre fr den Notfall dieses gut gewichste Paar Schuhe in seinem Haus bereitgestanden hatte. Wir taten so, als wn die Ereignisse unvorhersehbar gewesen, als w aus heiterem Himmel die Hlle losgebrochen, aber dieser kleine Mann da, mein direkter Vorgesetzter, hatte seine Schuhe. Er war vorbereitet. Er hat es kommen sehen. Er hat gewusst, dass Sandalen eines Tages nicht mehr gengen wrden, und hat sich ein Paar Wanderschuhe bereitgestellt. Fr mich war es Verrat. Die Berechnung, die in der Wahl seines Schuhwerks zum Ausdruck kam, seine Planung in diesem Chaos, das nebenbei gesagt nur aussah wie ein Chaos, aussehen sollte wie eines, in Wahrheit aber eine perfekt organisierte Hlle war, ausgedacht, vorbereitet, durchgefhrt, verletzte meine Ehre. Ich wollte kein Feigling in guten Schuhen sein, und als der Augenblick gekommen war, als ich die Tr von Haus Amsar verriegelt hatte und schon fast auf dem Weg zur Botschaft war, wo sie bereits warteten, da bin ich hinters Haus gegangen, bin hinters Notstromaggregat geschlpft und habe mich nicht geregt.


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