Bevormundete Staatsbürgerinnen

Bevormundete Staatsbürgerinnen

Einband:
Kartonierter Einband
EAN:
9783593508276
Untertitel:
Die »radikale« Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich
Genre:
Neuzeit bis 1918
Autor:
Anne-Laure Briatte
Herausgeber:
Campus Verlag GmbH
Anzahl Seiten:
490
Erscheinungsdatum:
31.01.2020
ISBN:
978-3-593-50827-6

Am 19. Januar 1919 konnten Frauen erstmals auf nationaler Ebene in Deutschland das Wahlrecht ausüben. Nach heftig geführten Auseinandersetzungen war damit ein wichtiges Ziel der "radikalen Frauenbewegung" des Deutschen Kaiserreichs erreicht. Anne-Laure Briatte zeichnet die bislang vernachlässigte Geschichte dieses Zweiges der deutschen Frauenbewegung nach, der sich um die von Minna Cauer herausgegebene Zeitschrift "Die Frauenbewegung" gruppierte. Ihre Analyse der Positionen der "linken" Feministinnen, ihrer Erfolge und ihres Scheiterns füllt eine große Lücke in der Erforschung der deutschen Frauen-bewegung.

Autorentext
Anne-Laure Briatte, Dr. phil., lehrt und forscht an der Université Sorbonne.

Leseprobe
Einleitung Im geistigen und politischen Brodeln des Vormärz, das in die Revolution von 1848/49 mündete, wurden sich einige »fortschrittliche Frauen« in den deutschen Einzelstaaten ihres gemeinsamen Schicksals bewusst, das in einer weitgehenden Rechtlosigkeit und vielfachen gesellschaftlichen und rechtlichen Einschränkungen bestand. Die sächsische Schriftstellerin und Publizistin Louise Otto, die heute als Initiatorin der deutschen Frauenbewegung gilt, erregte einiges Aufsehen mit ihrem Leserbrief in den Sächsischen Vaterlandsblättern: »Die Teilnahme der Frauen an den Interessen des Staates ist nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht.« Diese Idee hatte die Französin Olympe de Gouges schon in ihrer Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin (1791) in abgewandelter Form vorgebracht, in der sie auf die Universalität der Menschenrechte hinwies. Trotz des reaktionären Windes, der nach der Revolution von 1848/49 wehte, bildete sich ab der Mitte der 1860er Jahre eine deutsche Frauenbewegung, die erneut an der essentialistischen Sichtweise auf die »Natur der Frauen« rüttelte und die Universalität der Menschenrechte einforderte. Hedwig Dohm, eine engagierte Schriftstellerin aus Berlin, die ihrer Zeit weit voraus war, brachte 1876 diese Forderung nach politischer Teilhabe hervor, und zwar mit der einfachen Begründung: »Die Menschenrechte haben kein Geschlecht.« Die Frauen, die sich am Ende der 1880er Jahre unter dem Banner des »radikalen« Flügels der deutschen Frauenbewegung sammelten, gingen noch weiter in ihrem Willen, an der Gesellschaft ihrer Zeit mit allen dazugehörigen Bürgerrechten teilzuhaben, als sie 1901 erklärten: »Wir sind Bürgerinnen des Staates, folglich haben wir das volle Recht wie jeder Bürger, uns mit allen Angelegenheiten des öffentlichen Lebens zu beschäftigen, d. h. also politisch aktiv zu sein. [] Es ist unwürdig, die Bürger des Deutschen Reiches unter dem Druck einer politischen Unmündigkeit zu halten [].« Dieses Zitat zeigt, dass sich die »radikalen« Frauenrechtlerinnen im Deutschen Kaiserreich als Staatsbürgerinnen verstanden, die ungerechterweise bevormundet wurden. Sie strebten danach, ihre bürgerlichen Rechte und Pflichten auszuüben. Doch drängten die Gesetze sie unter dem Vorwand aus der Staatsbürgergemeinschaft, dass sie Frauen seien, und stellten sie unter die Vormundschaft ihres Vaters oder Ehemannes. Die deutschen Frauenrechtlerinnen vom Ende des 19. Jahrhunderts waren nicht bereit, diese Situation noch länger hinzunehmen, ebenso wenig wie die normativen Diskurse über die Geschlechterrollen, auf denen sie beruhte. Die ökonomischen und sozialen Veränderungen ab dem Ende des 18. Jahrhunderts hatten die Trennung von Familien- und Arbeitsbereich vorangetrieben. Wie die Historikerin Karin Hausen gezeigt hat, ging diese Trennung mit einer Aufteilung der Geschlechterrollen einher. Dies führte letztendlich zu einer normativen Definition einander gegensätzlicher und hierarchisierter geschlechterspezifischer Eigenschaften, die als natürlich und damit als unumstößlich charakterisiert wurden. Aus diesen Gründen meinten sämtliche Gegnerinnen und Gegner der Gleichheit der Geschlechter auch angeben zu können, dass die Frauen von Natur aus weder in der Lage noch dazu berufen seien, in politischen Angelegenheiten mitzuwirken. Letztere konnten sich auf Denker des europäischen Bürgertums aus dem späten 18. und 19. Jahrhundert berufen, beispielsweise auf Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte, die diese Hierarchisierung mit einem philosophischen Unterbau versehen hatten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand etwas, das bald schon die »Frauenfrage« genannt wurde. Die Industrialisierung Deutschlands zwang die Frauen aus ärmeren Schichten, außerhalb des Hauses zu arbeiten: als Heim- oder als Fabrikarbeiterinnen und später auch im tertiären Sektor. Sie führte auch dazu, dass die Lebenswege von manchen bürgerlichen Frauen sich veränderten. Die ledig Gebliebenen (gleichgültig, ob freiwillig oder nicht), die zu früheren Zeiten im mehrgenerationellen Haushalt integriert waren, waren auf Grund der veränderten Arbeits- und Produktionsweisen mehr und mehr gezwungen, eine bezahlte Arbeit außerhalb des kleiner gewordenen Haushalts aufzunehmen. Aus diesen Gründen wurde die Frage nach ihrem Zugang zum Arbeitsmarkt (und damit zur Bildung) für Generationen von Frauen wichtig, die durchweg das gleiche Schicksal der Ausbildungs- und Ressourcenlosigkeit teilten. Einige von ihnen begannen sich dann zu organisieren, um sich gemeinsam ihrer sozialen und ökonomischen Bevormundung zu entledigen. Die Frauenbewegung, die ab der Mitte der 1860er Jahre in Deutschland entstand, verfolgte vor allem das Ziel, die Frauenbildung zu verbessern und berufliche Perspektiven für Frauen zu entwickeln. Zahlreiche Frauenvereine rückten die soziale Arbeit für mittel- und chancenlose Frauen in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. Clara Zetkin gründete 1890, nachdem das Sozialistengesetz (18781890) nicht mehr verlängert worden war, die Arbeiterinnenbewegung, die sie primär als Frauenflügel der Arbeiterbewegung und nicht als Frauenbewegung im feministischen Sinne verstand. Gemäß der marxistischen Ideologie räumte sie den ökonomischen Zielsetzungen den höchsten Stellenwert ein. Ab Mitte der 1890er Jahre begann die deutsche Frauenbewegung sich entlang der bestehenden sozialen Grenzen zu teilen: in eine »bürgerliche« und eine »proletarische« Frauenbewegung. In diesem Prozess bildete sich ein »radikaler« Flügel in der »bürgerlichen« Frauenbewegung. Ihre Lesart der »Frauenfrage« stellten die »Radikalen« wie folgt dar: »Die Frauenfrage ist zwar zum großen Teile Nahrungsfrage, aber vielleicht in noch höherem Maße Kulturfrage [], in allererster Linie aber ist sie Rechtsfrage, weil nur von der Grundlage verbürgter Rechte, nicht idealer [] an ihre sichere Lösung überhaupt gedacht werden kann.« Die »radikalen« Frauenrechtlerinnen unterschieden sich vom »gemäßigten« Flügel durch die Priorität, die sie dem Kampf für die volle rechtliche Gleichstellung beimaßen. Sie verstanden schnell, dass sie über die Stimmabgaben der Männer, die als einzige wählen durften, keine rechtliche Gleichstellung erlangen würden, und setzten sich deshalb als erstes Ziel, die gleichen staatsbürgerlichen Rechte zugesprochen zu bekommen. Die Prämisse lautete, dass Frauen mittels des Wahlrechts die Gesetzestexte mitgestalten könnten. Gesetze allein verbrieften ihre Rechte alles andere waren Konzessionen an die Frauen, Teilrechte, die jederzeit wieder aufgehoben werden konnten. Das war zumindest die Argumentationslinie, die Hedwig Dohm so auf den Punkt brachte: »Die Radikalen fordern alle Freiheiten und Rechte unbedingt und uneingeschränkt, in der Meinung, daß aus lauter Bischens (ein bischen Freiheit, ein bischen Beruf) doch nur etwas An- und Zusammengeflicktes wird.« Diese Forderung war bei den »radikalen« Frauenrechtlerinnen in ein großes gesellschaftliches Reformprojekt eingebettet, das über die spezifischen Fraueninteressen weit hinausging. Folglich war dieser Feminismus nicht in dem Sinne »radikal«, dass er mit Unnachgiebigkeit und ausschließlich für die Fraueninteressen betrieben wurde; er war »radikal«, weil er das Prob…


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