Rausch und Diktatur

Rausch und Diktatur

Einband:
Paperback
EAN:
9783593382067
Untertitel:
Inszenierung, Mobilisierung und Kontrolle in totalitären Systemen
Genre:
Kulturgeschichte
Herausgeber:
Campus Verlag GmbH
Auflage:
Nachdruck
Anzahl Seiten:
324
Erscheinungsdatum:
31.10.2006
ISBN:
978-3-593-38206-7

Kultur und Geschichte

Rausch, Ekstase und Euphorie kennzeichneten sowohl die nationalsozialistische als auch die sowjetische Diktatur. Dazu gehören Vorstellungen von der rauschhaften Verschmelzung des Ich mit dem Kollektiv ebenso wie Masseneuphorie oder die Flucht in den Alkoholismus, die systemgefährdende Wirkungen hatten. In diesem Band wird erstmals dargestellt, wie der Rausch sowohl zur Stabilisierung des Regimes eingesetzt als auch in seiner bedrohlichen Form bekämpft wurde.

Autorentext
Árpád v. Klimó, PD Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam. Malte Rolf, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas an der HU Berlin.

Leseprobe
Wenn er aus seiner kleinen Arbeitsstätte oder aus dem großen Betrieb, in dem er sich recht klein fühlt, zum ersten Mal in die Massenversammlung hineintritt und nun Tausende und Tausende von Menschen gleicher Gesinnung um sich hat, wenn er als Suchender in die gewaltige Wirkung des suggestiven Rausches und der Begeisterung von drei- bis viertausend anderen mitgerissen wird, wenn der sichtbare Erfolg und die Zustimmung von Tausenden ihm die Richtigkeit der neuen Lehre bestätigen und zum erstenmal den Zweifel an der Wahrheit seiner bisherigen Überzeugungen erwecken - dann unterliegt er selbst dem zauberhaften Einfluß dessen, was wir mit dem Wort Massensuggestion bezeichnen. "Ein Rausch, mir unheimlich in tiefster Seele, hob das Volk auf und nannte sich nationale Revolution. Der Rausch - was für ein zweideutig deutsches Wort! Wie mischen sich darin Begeisterung mit Entgeistung, das Höchste mit dem Niedrigsten, das Glück der Enthemmung, das Elend der Vernunftlosigkeit. Andere Sprachen haben dies Zauberwort gar nicht; sie setzen dafür ein sehr sachliches und nüchternes wie: Intoxikation, Vergiftung. Vergiftet schien mir Deutschland, nicht enthoben." "O glückseligste Zeit im Leben meines Volkes - o Zeit zwischen Öffnung und Schließung der Geschäfte!" Von Anfang an haben Beteiligte wie Beobachter die Entstehung und den eigentümlichen Charakter von politischen Massenbewegungen und modernen Diktaturen als Zustände des Rausches beschrieben. Doch was lässt sich mit einem so schillernden Begriff, diesem "zweideutig deutsche[n] Wort", erklären? Gibt es einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Formen und Praktiken von Rauschhaftigkeit? Welche Verbindung besteht zwischen jenem vermeintlich "suggestive[n] Rausch", den Adolf Hitler als Massenerlebnis schildert, und der kollektiven Alkoholberauschung, wie sie Venedikt Erofeev in der Anspielung auf die Ladenzeiten und im Bild des Spirituosenverkaufs als große Volksbeglücker ausdrückte? Und was hatte es mit der "Enthemmung", "Vernunftlosigkeit" und "Vergiftung" auf sich, die der ins Exil gedrängte Literat Thomas Mann festzustellen meinte? Das sind Fragen, die dieses Buch stellen möchte. Der thematische Bogen ist weit gespannt und doch kehrt die Grundfrage immer wieder: Welchen Ort hatte Rausch als "übersteigerter Gefühlszustand" , aber auch als Moment von Grenzüberschreitung und Kontrollverlust in Zeiten der verschärften Grenzziehungen und der intensivierten Kontrolle diktatorischer Regime? Waren Rauschzustände einige der wenigen Nischen der Freiheit, in denen man sich den parteistaatlichen Zumutungen entziehen konnte, Akte gar der Renitenz, verwirklicht im Eskapismus? Oder diente die Berauschung von Menschen nicht eher den Diktatoren und ihren Propagandaexperten als Mittel der Beherrschung ihrer Untertanen, als effektives Instrument im Werkzeugkasten des Manipulationshandwerks? Ein solches Fragenbündel verweist auf das grundlegende Paradox im Zusammenspiel von Rausch und Diktatur: Eine ekstatische und exzessive Transzendenz des Alltäglichen, die Rausch zu implizieren scheint, stand im Konflikt mit den potentiell allumfassenden Herrschaftsansprüchen und Kontrollphantasien diktatorischer Regime. Und dennoch erlaubten auch Diktaturen totalitären Zuschnitts Formen des Rausches, wenngleich in fest institutionalisierten Formen. Es wird hier der Versuch sichtbar, Zeiten und Orte begrenzter Entgrenzung zu schaffen und limitierte Räume des kontrollierten Kontrollverlusts einzurichten. Ein Versuch, bei dem die Ambivalenz in der Begegnung von Rausch und Diktatur überdeutlich hervortritt: Wie löst sich das Konflikt- und Spannungsverhältnis zwischen dem diktatorischen Kontrollzugriff auf Menschen und der Erosion von Kontrollmöglichkeiten in Rauschmomenten? Die variablen Antworten, die im Nationalsozialismus und in den Regimen sowjetischen Typs auf diesen Grundkonflikt gegeben wurden, sind Gegenstand dieses Buchs.

Inhalt
Inhalt I. THEORETISCHE EINFÜHRUNG Rausch und Diktatur: Emotionen, Erfahrungen und Inszenierungen totalitärer Herrschaft 11 Árpád von Klimó/Malte Rolf Macht der Emotionen - Gefühle als Produktivkraft: Bemerkungen zu einer schwierigen Geschichte 44 Alf Lüdtke II. RAUSCH UND EMOTIONEN IN POLITISCHEN DISKURSEN DER MODERNE "Blinden Dingen Gesicht": Zur Bedeutungs- und Wirkungsgeschichte des Begriffes Rausch im 19. Jahrhundert 59 Günter Schödl Dionysische Politik und politisierter Dionysos: Der Rausch-Diskurs zwischen Romantik und Lebensphilosophie 79 Nitzan Lebovic III. KÖRPER, EXPERIMENT UND ENTHUSIASMUS: RAUSCH IN DER FRÜHEN SOWJETUNION Roter Rausch? Isadora Duncan, Tanz und Rausch im ausgehenden Zarenreich und der frühen Sowjetunion 95 Natalia Stüdemann Fröhlich sein und singen - Musikalische Entgrenzungsszenarien im sowjetischen Agitprop der zwanziger Jahre 118 Michael John Rausch im Blut: Aleksandr Bogdanovs Experimente zwischen Kunst und Wissenschaft 139 Margarete Vöhringer IV. MASSE UND ERLEBNIS: RAUSCH IM FASCHISMUS UND NATIONALSOZIALISMUS Sozialpsychologie der Akzeptanz des Nationalsozialismus: Kritische Anmerkungen zu "Rausch und Diktatur" 153 Gudrun Brockhaus Emotionaler Rausch: Zu den Mechanismen der Gefühlsmobilisierung auf faschistischen und nationalsozialistischen Festen 177 Christoph Kühberger Kontrolle statt Rausch? Marktforschung, Produktwerbung und Verbraucherlenkung im Nationalsozialismus zwischen Phantasien von Masse, Angst und Macht 193 Stefan Schwarzkopf V. UTOPIE UND ESKAPISMUS: RAUSCH IM NACHKRIEGSSTALINISMUS UND SPÄTSOZIALISMUS "Von Schwindel befallen" - Enthusiasmus, Inszenierung und Chaos im stalinistischen Aufbau am Beispiel der Kollektivierung der DDR-Landwirtschaft 1952/53 219 Todd Weir Rausch und Depression: Alkohol im kommunistischen Polen 239 Jan C. Behrends Diktatur als Drogentrip: Rauschimaginationen in sowjetischer Science-Fiction 255 Matthias Schwartz VI. ANHANG Danksagung 283 Bibliographie 284 Abbildungsverzeichnis 321 Autorinnen und Autoren 322


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