Die Stille ist ein Geräusch

Die Stille ist ein Geräusch

Einband:
Kartonierter Einband
EAN:
9783442731046
Untertitel:
Eine Fahrt durch Bosnien
Genre:
Literarische Gattungen
Autor:
Juli Zeh
Herausgeber:
BTB Tb.
Anzahl Seiten:
272
Erscheinungsdatum:
01.10.2003
ISBN:
978-3-442-73104-6

Juli Zeh ist eine Ausnahmeerscheinung unter den jungen deutschen SchriftstellerInnen. Ihr Debütroman "Adler und Engel" begeisterte Lesepublikum und Kritik gleichermaßen und wurde mit dem Deutschen Bücherpreis ausgezeichnet. Nun legt sie ihr zweites Buch vor, "sprengt literarische Genres und schafft eine kleine Kostbarkeit" (Frankfurter Neue Presse). Im Sommer 2001 fährt Juli Zeh, nur begleitet von ihrem Hund, nach Bosnien. Sie möchte mit eigenen Augen sehen, ob "Bosnien-Herzegowina ein Ort ist, an den man fahren kann. Oder ob er zusammen mit der Kriegsberichterstattung vom Erdboden verschwand". Mitgebracht hat sie eine eindringliche Reiseschilderung aus einem Land, das in einem prekären Frieden lebt, in dem gehasst, aber auch gelebt wird. Sie versucht nicht, Gut und Böse zu erkennen, Erklärungen zu finden, sie erzählt vielmehr spannend und oft witzig von einem Land, in dem die Stille selbst eine Stimme hat.

"Ein bemerkenswertes Stück Literatur."

Autorentext
Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Promotion im Europa- und Völkerrecht. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman »Adler und Engel« (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Heinrich-Böll-Preis (2019). Im Jahr 2018 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz und wurde zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. Ihr Roman »Über Menschen« war das meistverkaufte belletristische Hardcover des Jahres 2021. Zuletzt erschien bei Luchterhand der zusammen mit Simon Urban verfasste Bestseller »Zwischen Welten«.

Leseprobe
Der Hund guckt von draußen durch die Glastür, die Nase dicht an der Scheibe. Wenn er Daumen hätte, würde er sie drücken. Dafür, dass es jemandem hier gelingt, mir die Idee auszureden.
Die Frau im Reisebüro teilt seine Auffassung. "Was wollen Sie dort? Da ist doch Krieg!"
Gewesen. Ich verzichte auf Richtigstellung und starre auf die Landkarte vor mir, die ich nur zu sehen bekomme, weil ich "Recherche" statt "Tourismus" sage. Einige nicht sehr große Länder liegen unordentlich nebeneinander, ein paar Namen von Städten und Flüssen kenne ich aus den Zwanzig-Uhr-Nachrichten. Im Herzen der Finsternis liegt ein weißer Fleck, in dem geschrieben steht: "Dieses Land eignet sich nicht für touristische Reisen". Das ist Bosnien-Herzegowina.
Pascal hat mal gesagt, alles Unheil auf der Welt komme daher, dass der Mensch nicht ruhig zu Hause auf seinem Hintern sitzen kann.
Der Hund guckt noch immer so. Ich beschließe, ihm wegen Illoyalität das Abendessen zu kürzen.
Sixt glaubt selbst nicht, was ein Monat Autofahren in Bosnien kostet. "Moment, das muss ein Fehler sein." Beschämt nennt er die Summe: Dreitausendfünfhundert. Nämlich US-Dollar. Dafür, wende ich ein, könne ich mir das ganze Land kaufen
und zuschicken lassen. Er stimmt zu. Wir trennen uns in gegenseitigem Einvernehmen.
Nach mehrtägigem Telephongespräch mit kurzen Unterbrechungen für Nahrungsaufnahme und Nachtschlaf vermittelt der ADAC mir einen Wagen, dessen Mietpreis nicht das Bruttosozialprodukt meines Reiselandes übersteigt. Ich hatte ohnehin vor, bei der nächsten Bundestagswahl für den ADAC zu stimmen.
Im Buchladen finde ich einen Touristenführer aus den achtziger Jahren mit lustigen Bildern von Dingen, die höchstwahrscheinlich nicht mehr existieren, fünf Tonnen Kriegsberichterstattung und drei Bücher über das historische Bosnien im Mittelalter.
Es gibt eben Dinge im Leben, auf die man sich nicht vorbereiten kann. Um etwas Sinnvolles zu tun, kaufe ich Stiefel, einen Schweizer Armeerucksack und ein Fahrtenmesser im Army-Shop. Den Hund lasse ich beim Friseur von seinem Pelz befreien und besorge ihm ein neues, leuchtend blaues Geschirr. So sieht er aus wie ein Fisch mit Hosenträgern und wird von Tschetniks nicht für einen Streuner gehalten und nicht versehentlich erschossen werden.
Meine Mutter sagt am Telephon, Griechenland sei schön und auch weit im Südosten.
Der vorwurfsvolle Blick des Hundes wird intensiver, als ich anfange, den Rucksack zu packen. Er verlangt eine Erklärung. Ich versuche es: Nach zwei Wochen vergeblicher Reisevorbereitung bin ich urlaubsreif. Wir müssen endlich mal wegfahren. Wie wär's mit Bosnien?

Das weist er als Zirkelschluss zurück. Ich gebe auf und unterbreche das Packen, zumal ich nicht weiß, was ich mitnehmen soll. Im Badezimmer schneide ich den Pony meiner Topffrisur extra kurz, auf Vorrat. Als ob man sich dort die Haare nicht schneiden könnte. Der Hund sitzt auf der Schwelle und fixiert mich. Ich versuche es noch einmal.
"Vor etwa acht Jahren, als du noch klein warst, fragte mein Bruder einmal, wo die Städte Moslemenklavebihac und Belagertessarajevo liegen."
Der Hund versteht nicht.
"Ich will sehen, ob Bosnien-Herzegowina ein Ort ist, an den man fahren kann, oder ob es zusammen mit der Kriegsberichterstattung vom Erdboden verschwunden ist."
Der Hund hört nicht zu. Er nimmt zur Kenntnis, dass sein Futter obenauf geschnallt wird. Zum Schlafen legt er sich nicht wie üblich neben das Bett, sondern im Flur an die geschlossene Wohnungstür.

Wer die Hölle überleben will

Das da am Bahnhof von Maribor auf dem Nebengleis steht, ist kein Ausstellungsstück, sondern ein Nahverkehrszug, aus verschiedenen alten Waggons zusammengestückelt, einer davon ganz aus Holz wie ein Schuppen auf Rädern. Mein Zug spricht wienerisch und ist so gut klimatisiert, dass die Hitze draußen an Glaubwürdigkeit verliert. Der nackte Hund, von den Hosenträgern schlecht gewärmt, zittert auf meinen Füßen. Ich hole ihn neben mich auf die Sitzbank, immerhin hat er bezahlt. So lässt es sich aushalten. Ich könnte fünf Wochen lang zwischen Wien und Zagreb hin und her fahren und entspannt den eigenen Gedanken lauschen, wie sie unablässig die Umgebung kommentieren.
Falls es nicht nur an den schmutzigen Fensterscheiben liegt, sind die Farben draußen blass und das Licht trüb wie in der Sahara. Vor der Hitze fürchte ich mich am meisten. Außer vor Landminen, Serben, Nächten im Freien, unbekannten Krankheiten, Diebstahl der Dokumente, Tod und Teufel.

Kaum dass die Zugtüren offen sind, beginnt der Hund zu hecheln. Auf dem Bahnsteig wird mir übel, ich setze den Rucksack ab und mich darauf. Es lag nicht an den schmutzigen Fensterscheiben.
Wer die Hölle überleben will, muss ihre Temperatur annehmen. Das versuche ich gerade, als ein Ehepaar mich anspricht. Ich erkläre auf Polnisch, dass der Hund nicht von Natur aus nackt ist, mit buschigem Kopf, Schwanz und Beinen. Sie verstehen, nicken und lächeln mir jedenfalls zu. Kontaktaufnahme mit den Eingeborenen gelungen, auch wenn es erst mal Kroaten sind. Ob ich allein unterwegs bin? Aber klar doch.

Zagreb empfängt mich mit so weit ausgebreiteten Armen, dass mir schwindelt, während ich mich hineinfallen lasse. Die Stadt kann gucken, als hätte sie einen schon immer vermisst.
Unter den Platanen mit vielfarbig abblätternder Rinde sitzen Liebespaare, junge und alte, und passen vollkommen dorthin, als würden sie von der Stadtverwaltung für ihren Aufenthalt auf den Bänken bezahlt. Der Hund krümmt sich zum Fragezeichen und kackt neben den Springbrunnen mitten in die Szenerie. Einstweilen betrachte ich interessiert die herrschaftlichen Fassaden und bin verwirrt. Ich hatte mir Zagreb wohl als einen Bombenkrater vorgestellt, an dessen Rand in Lumpen gehüllte Flüchtlinge sitzen.
Die Häuser sind unsaniert auf eine Art, die mit Verfall nichts zu tun hat, sondern nur mit der Frage, ob man es nötig hat, sich zu schminken. Wenn ich nicht fünf Wochen lang im Zug nach Zagreb sitzen kann, könnte ich wenigstens fünf Wochen in Zagreb herumsitzen. Ich muss stramm gehen, Blick geradeaus, sonst bleibe ich an jeder …


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