Adler und Engel

Adler und Engel

Einband:
Kartonierter Einband
EAN:
9783442729265
Untertitel:
Roman
Genre:
Literatur vor 1945
Autor:
Juli Zeh
Herausgeber:
BTB Tb.
Anzahl Seiten:
448
Erscheinungsdatum:
30.04.2003
ISBN:
978-3-442-72926-5

Liebesgeschichte, Kriminalroman, Entwicklungsgeschichte, Politthriller furios zu einem Roman verwoben das ist das Buch von Juli Zeh, einem der überragenden Talente der deutschen Literatur. Für ihre Geschichte um den Völkerrechtsexperten Max, der nach dem Selbstmord seiner einzigen Liebe Jessie ins Bodenlose stürzt, wurde die Autorin mit dem Deutschen Bücherpreis, mit dem Rauriser Literaturpreis und dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet, die Kritik lag ihr zu Füßen. Juli Zeh erzählt lakonisch und doch voller Poesie vom Schicksal einer Liebe, die sich im Geflecht von Politik und Profit verfängt. Ihr Roman entwirft das eindrucksvolle Szenario einer Welt nach dem Zusammenbruch der Ideologien und das in einer Sprache, die rasant und absolut zeitgemäß ist.

"Ein schlagfertiges, ruppiges, intelligentes Buch."

Autorentext
Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Promotion im Europa- und Völkerrecht. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman »Adler und Engel« (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Heinrich-Böll-Preis (2019). Im Jahr 2018 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz und wurde zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. Ihr Roman »Über Menschen« war das meistverkaufte belletristische Hardcover des Jahres 2021. Zuletzt erschien bei Luchterhand der zusammen mit Simon Urban verfasste Bestseller »Zwischen Welten«.

Leseprobe
Sogar durch das Holz der Tür erkenne ich ihre Stimme, diesen halb eingeschnappten Tonfall, der immer klingt, als hätte man ihr gerade einen Herzenswunsch abgeschlagen. Ich nähere ein Auge dem Türspion und sehe direkt in einen übergroßen, weitwinklig verbogenen Augapfel, als läge im Treppenhaus ein Walfisch vor meiner Tür und versuchte, in die Wohnung hereinzuschauen. Ich fahre zurück und drücke vor Schreck auf die Klinke.
Ich war sicher, dass sie schwarzhaarig ist. Aber sie ist blond. Sie steht auf meiner Fußmatte, das linke Auge zugekniffen, den Oberkörper leicht vorgebeugt zu der Stelle, an der sich eben noch, bei geschlossener Tür, die Linse des Spions befand. Ohne Eile richtet sie sich auf. Oh Scheiße, sage ich. Komm rein. Wie geht's. Gut, sagt sie, hast du vielleicht Orangensaft da? Habe ich nicht. Sie guckt mich an, als müsste ich jetzt sofort losrennen und im Supermarkt an der Ecke drei Flaschen von dem Zeug erstehen. Wahrscheinlich wäre es dann die falsche Marke und sie würde mich noch einmal losschicken. Ich sehe sie zum ersten Mal, und soweit ich es erkennen kann, während sie in meine Wohnung hineinspaziert, hängt an ihr keine Gebrauchsanweisung dran. Sie hat geklingelt, ich habe geöffnet.
Drei Sekunden später sitzt sie am Küchentisch und wartet auf gastgeberische Aktionen meinerseits. Ich bin wie gelähmt von der Erkenntnis, dass es sie erstens wirklich gibt und dass sie zweitens tatsächlich hier auftaucht. Sie macht sich nicht die Mühe, ihren Namen zu nennen. Offenbar geht sie davon aus, dass zu einer Stimme wie ihrer nur ein Mädchen wie sie gehören kann, und irgendwie ärgert es mich, dass sie recht hat damit, trotz der langen blonden Haare, die sie jetzt zurückwirft, damit sie hinter der Stuhllehne herunterhängen. Schon nach den ersten zwei Minuten mit ihr wird es schwierig, mich daran zu erinnern, wie ich sie mir vorgestellt habe, während ich ihrer dämlichen Sendung zuhörte. Ein bisschen wie Mata Hari, glaube ich. Sie wirkt definitiv zu jung, sie sieht aus wie ihre eigene kleine Schwester. Aber sie hat diese unverkennbare Stimme, deren beleidigter Klang sich immer auf die Ungerechtigkeit der Welt im Ganzen zu beziehen scheint, während sie den albernen Geschichten ihrer Anrufer zuhört. Es sind vor allem Männer. Sie hört sie an und macht ab und zu Hmhm-hmhm, dasselbe tiefe, brummende Hmhm, mit dem ihre Mütter sie in den Armen gewiegt haben. Manche fangen an zu heulen. Ich nicht. Dafür begeisterte mich von Anfang an die unglaubliche Kälte, mit der sie ihre schluchzenden Anrufer mitten im Satz abwürgt, wenn sie die vorgeschriebenen drei Minuten Sprechzeit überschritten haben. Sie muss grausamer sein als die Inquisition. Schon vor Monaten, lange bevor ich selbst eine alberne Story zu erzählen hatte, habe ich mir angewöhnt, sie Mittwoch- und Sonntagnacht einzuschalten.
Wahrscheinlich notieren sie im Sender die Nummern aller Anschlüsse, von denen aus angerufen wird. Ich nannte einen Vornamen und der war auch nicht echt. Aber über eine Telephonnummer lässt sich die Adresse herausfinden, wenn man unbedingt will. Das habe ich jetzt davon.
Draußen vor dem Fenster klebt der Mond am Himmel, rot, viel zu groß und mit zerfleischtem Rand an einer Seite. Er sieht nicht aus wie ein gutes Zeichen, auf einmal kriege ich Angst. Ich habe seit Wochen keine Angst mehr gehabt, warum jetzt plötzlich. Ich benehme mich komisch. Ich muss ihr etwas anbieten.
Orangensaft ist alle, sage ich, aber du könntest Apfelsaft haben.
Nein danke, sagt sie, wenn es keinen Orangensaft gibt, dann will ich gar nichts.
Sie schaut mich verächtlich an. Ich bin Max-der-Orangensaftvernichter und werde erleben müssen, wie sie unter meinen Augen verdurstet. Ich schütte Kaffee in die Espressomaschine, um mich in Bewegung zu halten. Dann steht die Tasse vor ihr, sie schnuppert daran und verzieht angeekelt das Gesicht, als handelte es sich um Schweineblut.
Apropos Blut, sagt sie.
Ich habe nichts von Blut gesagt. Vielleicht gehört Gedankenlesen zu ihrem Job. Wo ist es passiert?
Niemandem ist es gestattet, danach zu fragen. Ich müsste eigentlich gleich in ihre Haare greifen und sie daran über den Flur zerren, ihr die Füße wegtreten, falls sie versuchen sollte, auf die Beine zu kommen. Sie rauswerfen. Aber ich tue es nicht. Ich habe zu lange mit niemandem gesprochen, außer mit denen im Supermarkt und mit der Schwuchtel, die die Pizza bringt. Er schaut mir ständig aufs Kinn und überlegt, ob mein Bart schon wieder gewachsen ist, und wenn ich ihn in die Küche lasse, während ich nach Kleingeld suche, gerät er außer sich vor Begeisterung darüber, dass die Spüle an Ketten von der Decke hängt und der Herd aus Sandstein gemauert ist. Einmal hat er im Treppenhaus versucht, mir an den Arsch zu fassen, und als ich ihn wegstieß, ist er rückwärts die Stufen runtergefallen. Er kommt trotzdem wieder, jeden Tag außer sonntags, ich weiß nicht, wie oft schon.
Huhu, sagt sie, wo es passiert ist?
Sie lächelt. Dieses Lächeln passt zu ihrer Stimme wie ein bequemes Kleidungsstück, und die Stimme geht einmal durch den Raum und stellt sich neben mich und tippt mir auf die Schulter. Jetzt spüre ich es auch: diesen Wunsch zu heulen. Genau wie die anderen. Aber nein. Nicht mehr. Nie wieder.
Heulen war schon. Zwei Tage und Nächte lang ohne Unterbrechung, ohne Schlaf, ohne mich vom Boden des Zimmers zu erheben. Alle paar Stunden, immer wenn meine Augen so ausgetrocknet waren, dass sie sich wie aufgestochene Brandblasen anfühlten, trank ich einen Schluck Wasser aus der halbvollen Flasche, die herumstand und aus der auch Jessie getrunken haben musste, bevor sie es tat. Ich hatte sie sogar schlucken gehört, am Telephon, ich hatte gehört, wie Wasser aus genau dieser Flasche von den Muskeln in ihrem Hals durch die Kehle gedrückt wurde.
Mit dem bisschen Flüssigkeit gelang es mir, neue Tränen hervorzubringen, und als die Flasche ausgetrunken war, glaubte ich sicher, blind zu werden. Das war mir willkommen. Ich hatte ohnehin nicht vor, jemals wieder die Augen zu öffnen.


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