Das Imaginäre und die Revolution

Das Imaginäre und die Revolution

Einband:
Kartonierter Einband
EAN:
9783593511535
Untertitel:
Tunesien in revolutionären Zeiten
Genre:
Politische Ideengeschichte & Theorien
Autor:
Nabila Abbas
Herausgeber:
Campus
Anzahl Seiten:
486
Erscheinungsdatum:
09.10.2019
ISBN:
978-3-593-51153-5

Im Jahr 2011 bricht die tunesische Revolution aus. Bürgerinnen und Bürger besetzen im ganzen Land öffentliche Plätze, fordern politische Freiheits- und Gleichheitsrechte und soziale Gerechtigkeit. In dieser Studie kommen die Akteurinnen und Akteure der Revolution zu Wort. So werden ihre Motive und ihre politischen Vorstellungen sichtbar. Das Buch gibt Aufschluss über die ideellen Wurzeln der Revolution und fragt nach den Entstehungsbedingungen politischer Praxis und Vorstellungskraft in Kontexten von Protesten. Ausgewählt für die Shortlist des Opus Primum Förderpreis der VolkswagenStiftung für die beste Nachwuchspublikation des Jahres 2020

»Ein auf mehreren Ebenen wichtiger Forschungsbeitrag. So bietet das Buch neben einer eindrucksvollen Schilderung der Vorgänge ab 2010 durch seine gelungene Kontextualisierung mithilfe der Staatsnarrative und ihrer Umsetzung einen guten Einstieg in die Geschichte und Politik Tunesiens. Daneben zeigt Abbas auf, dass Revolutionen ohne die ideelle Ebene, das heißt die Imaginäre, nur schwerlich in ihrem Verlauf nachvollzogen werden können.« Valerian Thielicke, Soziopolis, 23.01.2020

Autorentext
Nabila Abbas ist Politikwissenschaftlerin und hat an der Université de Paris 8 Vincennes-Saint-Denis und an der Universität Gießen promoviert. Sie lehrt an Sciences Po Paris.

Leseprobe
1. Einleitung »Öffnet die Türen den milden Seelen, vom Wahnsinn entflammt wartend [] Gefängnis-Unglück, Gefängnis-Gefängnis Oh, wie viele Fremde haben den bitteren Geschmack gekannt die Steine der Mauern sind geschmolzen Und wir sind alle Gefängnisinsassen geworden [] Werft die Gefängnisse ins Gefängnis Die Rede wird sich befreien der Gesang der Überlebenden wird sich erheben Eine Sintflut wird kommen Die Rede ist fesselnd Eine Sintflut wird kommen.« Basset Ben Hassan, Öffnet die Türen, 10. Mai 2010, Tunis »Präsident des Landes, heute spreche ich dich in meinem Namen und im Namen des Volkes an, das vom Gewicht der Ungerechtigkeit erdrückt wird. [] Es gibt Leute, die vor Hunger sterben, sie wollen arbeiten, um zu leben, aber ihre Stimme wird nicht gehört! [] Die Hälfte des Landes wird erniedrigt. Schau, was in dem Land passiert! [] Bis wann sollen die Tunesier in ihren Träumen leben? Wo ist die Meinungsfreiheit? Ich sehe sie nur auf dem Papier. [] Das Volk hat so viel zu sagen, aber seine Stimme trägt nicht.« Mit diesen Worten klagt der 22-jährige tunesische Rapper El General in seinem Lied Rais el bled (Präsident des Landes) Ben Ali zum 23. Jahrestag seiner Herrschaft im November 2010 an. Einen Monat später entfachen im Zuge der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi die Proteste der tunesischen Bürger*innen in Sidi Bouzid. Sie verbreiten sich von dort aus in aller Eile über das ganze Land und inspirieren schließlich auch andere arabische und südeuropäische Bürger*innen, sich gegen politisch unterdrückende, entmündigende und ausbeuterische Verhältnisse zu erheben. Die Erzählungen und die Träume der tunesischen Bürger*innen, die unter der Diktatur Ben Alis, wie uns El General lehrt, kein Gehör finden, faszinierten mich von der Geburtsstunde des tunesischen Revolutionspro-zesses an. Sie schienen mir, den in den westeuropäischen und nordameri-kanischen Ländern dominanten Diskurs über die vermeintlich »demokratie-unwilligen«, apolitischen und fatalistischen Bürger*innen der arabischen Welten fundamental infrage zu stellen. Chimamanda Ngozi Adichie, nigerianische Schriftstellerin, warnt vor solchen stereotypisierenden Diskursen: »So that is how to create a single story, show a people as one thing, as only one thing, over and over again, and that is what they become. [] The single story creates stereotypes, and the problem with stereotypes is not that they are untrue, but that they are incomplete. They make one story become the only story.« (Ngozi Adichie 2009) Von der Notwendigkeit vielfältiger Geschichten überzeugt, begebe ich mich auf die Suche nach den Erzählungen der tunesischen Bürger*innen. Während ich 2010 den Eindruck hatte, Zeugin eines wichtigen historischen Ereignisses zu werden, sahen viele wissenschaftliche und journalistische Beobachter*innen in den Ereignissen vor allem Hungerrevolten und spontane Unruhen oder befürchteten einen Sieg von Extremisten. Mich hingegen berührten die Demonstrant*innen in Sidi Bouzid, Kasserine, Thala und Tunis, die sich den Snipern und Panzern des Regimes entgegenstellten, um soziale Gerechtigkeit, Freiheitsrechte und politische Teilhabe zu fordern. Meine Neugier und mein Wille, zu verstehen, warum die Menschen in Tunesien revoltieren, war geweckt. Zu diesem Zeitpunkt beschäftigte ich mich intensiv mit radikalen Demokratietheorien. Radikale Demokratietheorien schienen mir besonders dafür geeignet, revolutionäre Momente zu erfassen. Schließlich betonen sie die agonale Verfasstheit des Politischen als Kraft der kollektiven Selbstinstituierung einer Gesellschaft. Der Ausgangspunkt demokratischer Praxis liegt demnach in Konflikt, Differenz und Dissens. Anstatt die politische Dimension des tunesischen Revolutionsprozesses ausgehend von den Theorien von Jacques Rancière, Claude Lefort, Etienne Balibar und Ernesto Laclau zu erfassen, entschied ich mich dazu, von der Empirie auszugehen und sie anschließend mit theoretischen Überlegungen zu kreuzen. Ich analysiere folglich den revolutionären Prozess vornehmlich mithilfe der empirischen Studie der Imaginäre, das heißt der politischen Ideen und gesellschaftlichen Vorstellungen, der Akteur*innen, die gegen das System von Ben Ali kämpften. Das Konzept des Imaginären erlaubt es mir, sowohl die ideell-narrative Dimension des Revolutionsprozesses zu erfassen als auch eine Klammer zwischen meinen empirischen und theoretischen Überlegungen zu denken. Die radikalen Demokratietheorien begleiten dennoch an vielen Stellen meine Reflexion und finden sich an vielen Stellen des Buches wieder. Diese Vorgehensweise wird meinem Untersuchungsgegenstand, dem tunesischen Revolutionsprozess, gerechter. 1.1 Untersuchungsgegenstand: Politische Ideen in der Praxis denken »Was tue ich als Forscher? Ich wette auf die Gleichheit.« Jacques Rancière, Die Methode der Gleichheit, 2014 In diesem Buch analysiere ich, wie bereits erwähnt, den tunesischen Revolutionsprozess, indem ich mich mit den Imaginären der Akteur*innen auseinandersetze, die gegen das System von Ben Ali gekämpft haben und zum Ausbruch des revolutionären Prozesses beitrugen. Ich stütze mich dabei auf das vom griechisch-französischen Philosophen Cornelius Castoriadis entwickelte Konzept der Imaginäre. Der Begriff dient Castoriadis sowohl dazu, kollektive politische Vorstellungen, soziale Repräsentationen und gesellschaftliche Bedeutungen als Ausdruck sozialer Praxis zu benennen, als auch die durch die Vorstellungskraft begleitete, mögliche Überschreitung politischer Verhältnisse zu denken. Castoriadis weist anhand der Imaginäre auf die transformatorische Kraft von Gesellschaften hin (vgl. Castoriadis 1995: 70). Mit Castoriadis gehe ich davon aus, dass Imaginäre insbesondere in revolutionären Umbruchs- und Gründungsmomenten entstehen, in denen die Gesellschaft zentrale politische und gesellschaftliche Institutionen hinterfragt. Der Begriff vermag es folglich, dekonstruktive Prozesse der Infragestellung und konstruktive Prozesse der politischen Instituierung zu erfassen. Mein Zugang zum tunesischen Revolutionsprozess über die Imaginäre der Akteur*innen ist von zwei Denkern inspiriert, die meine Haltung nachhaltig prägen: Michel Foucault und seine Überlegungen zum Entstehen von politischen Ideen sowie Jacques Rancière und seine egalitäre Methode. Foucault faszinierte das Aufkommen der Iranischen Revolution. Er reiste nach Teheran, um das revolutionäre Treiben in seinen »Ideenreportagen« für die italienische Tageszeitung Corriere della sera zu erfassen. Ihn bewegt »die Frage, warum Menschen sich erheben und sagen: Es geht so nicht weiter« (Foucault 2003a [1979]: 936). Dabei n…


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