Behinderung überwinden?

Behinderung überwinden?

Einband:
Kartonierter Einband
EAN:
9783593506838
Untertitel:
Organisierter Behindertensport in der Bundesrepublik Deutschland (1950-1990)
Genre:
Zeitgeschichte (1946 bis 1989)
Autor:
Sebastian Schlund
Herausgeber:
Campus
Anzahl Seiten:
411
Erscheinungsdatum:
17.08.2017
ISBN:
978-3-593-50683-8

Der Sport behinderter Menschen gerät meist nur während der Paralympics in den Fokus der Öffentlichkeit. Sebastian Schlunds Buch eröffnet - auch abseits dieses Großereignisses - Einblicke in die Geschichte des Behindertensports in Deutschland zwischen der Zeit der Weltkriege und der "Wiedervereinigung". Die Studie zeigt die Entwicklung des Phänomens von einer Therapiemaßnahme für Kriegsversehrte zu einer selbstbestimmten Freizeitaktivität. Dieser Prozess war von Debatten um die Integration behinderter Menschen sowie von Konflikten um die Gleichbehandlung aller Menschen mit Behinderung geprägt.
Für diese Dissertation wurde Sebastian Schlund 2017 mit dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung in der Sektion Geistes- und Kulturwissenschaften ausgezeichnet.

»Schlunds detailreiche Studie öffnet den Blick für eine in der Geschichtswissenschaft bisher wenig beachtete, sozio-kulturelle Komponente im Leben von Menschen mit Behinderungen. Dies macht "Behinderung überwinden?" gleichermaßen für Historiker sozialer Ungleichheiten wie für die Körper- und Sportgeschichte interessant. [] Das Buch räumt mit dem gängigen Bild des behinderten Elitesportlers auf, indem es die Annahme, Behindertensport sei ein Mittel der Kompensation und Überwindung, durch seine umfassende und differenzierte Betrachtung zur Disposition stellt.« Anna Derksen, H-Soz-Kult, 20.12.2017

Autorentext
Sebastian Schlund, Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Koordinator im Projekt "Intersektionalität interdisziplinär" an der Universität Kiel.

Leseprobe
Einleitung Acht Meter vierundzwanzig. Die Anzeigetafel im Ulmer Donaustadion zeigte am Nachmittag des 26. Juli 2014 unter dem Namen "Markus Rehm" 8,24 Meter. Der für Bayer Leverkusen angetretene Rehm sollte mit dieser Weite seinen schärfsten Konkurrenten Christian Reif um vier Zentimeter übertreffen und letztlich die Deutschen Meisterschaften im Weitsprung der Männer gewinnen. Was die Anzeigetafel nicht verriet: Markus Rehm ist seit einem Unfall einseitig unterschenkelamputiert und bestritt den Wettkampf mit einer speziell angefertigten Carbonprothese. Mit seinen herausragenden sportlichen Leistungen katapultierte sich Rehm nicht nur regelmäßig an die Spitze von Teilnehmerfeldern, sondern auch ins Zentrum öffentlicher Debatten um den Sinn gemeinsamer Wettkämpfe behinderter und nichtbehinderter Athleten. Schließlich schien dem Springer das eigentlich als Beeinträchtigung verstandene Fehlen eines natürlichen Beines mitnichten zum Nachteil zu geraten. Im Gegenteil: Markus Rehm warf - und wirft noch immer - die Frage auf, ob körperliche Beeinträchtigung mithilfe von High-Tech-Prothesen schlichtweg überwunden werden kann und somit die Chancengleichheit im sportlichen Wettkampf gefährdet sei. Lässt sich "Behinderung" überwinden? Warum der Sport behinderter Menschen historisch wie aktuell mit Überwindungsmotiven konnotiert ist, bildet die Leitfrage dieser Arbeit. Zum einen verspricht diese Fragestellung Erkenntnisse, weil die "Überwindung" einer körperlichen Beeinträchtigung eines der Hauptmotive behinderter Sportlerinnen und Sportler im gesamten Untersuchungszeitraum darstellte. Zum anderen wird nach der Überwindung von Zugangsbeschränkungen gefragt, die behinderte Menschen daran hinderten, am Sport teilzunehmen. Insofern umfasst diese Leitfrage sowohl die Mikroperspektive behinderter Sportler als Subjekte ihrer eigenen Geschichte sowie eine auf der Mesoebene angesiedelte Suche nach verschiedenartigen Barrieren im Behindertensport. Darüber hinaus begleitete der Überwindungsbegriff den Behindertensport in der Bundesrepublik über den gesamten Untersuchungszeitraum - allerdings in unterschiedlicher Form. Auf welche Art und Weise "Überwindung" mit dem Sport behinderter Menschen verknüpft wurde, hing dabei ebenso von gesamtge-sellschaftlichen Wandlungsprozessen auf der Makroebene ab, wie von spezifischen Entwicklungen im organisierten Behindertensport. In erster Linie ist hierbei an den Funktionswandel zu denken, den der Behinderten-sport im Verlauf der Jahrzehnte erfuhr. Zentraler Ort dieses Wandlungsprozesses war der im Deutschen Be-hindertensportverband (DBS) organisierte Sport in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1950 und 1990. An einigen Stellen wird die Analyse allerdings zeitlich nach beiden Richtungen über die Grenzen dieses Beobachtungszeitraums hinausgreifen, um die höchst unterschiedlichen Erscheinungsformen des Sports behinderter Menschen erfassen zu können. So bedeutete Behindertensport in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten vor allem eine staatlich finanzierte therapeutische Heilmaßnahme kriegsversehrter Männer. Diese funktionelle Art des Behindertensports bezog Anleihen aus Bewegungstherapien, die in Lazaretten des Zweiten und teils gar des Ersten Weltkriegs praktiziert worden waren. Entsprechend seiner Herkunft hieß der Behindertensport auch lange Zeit "Versehrtensport" und der heutige Behindertensportverband trug bis 1975 den Namen Deutscher Versehrtensportverband e.V. (DVS). Die Namensänderung des Verbandes, dessen Entwicklung einen der Schwerpunkte der Untersuchung darstellt, verweist auf mehrere Transformationen, die als thematische Schneisen dienen werden. Erstens veränderte sich die Mitgliederstruktur des organisierten Behindertensports im Beobachtungszeitraum stark: Während anfangs nahezu ausschließlich kriegsversehrte Männer am Sport behinderter Menschen teilnahmen, stie-ßen im Verlauf der Jahrzehnte auch Menschen hinzu, deren Beeinträchti-gung nicht ursächlich auf den Krieg zurückging. Diese sogenannten zivil-behinderten Menschen - darunter auch ein höherer Anteil von Frauen und Kindern als bei den Sport treibenden kriegsversehrten Menschen - traten den Versehrtensportvereinen gegen Ende der 1960er Jahre vermehrt bei. Erst einige Zeit später öffnete sich die unter dem Eindruck dieser Entwicklung zum Behindertensportverband umbenannte Organisation für Menschen mit geistiger Behinderung sowie in den 1980er Jahren für chronisch kranke und ältere Menschen. Mit dieser Erweiterung der behindertensportlichen Klientel ging - zweitens - eine Verschiebung der Funktionen einher, die behinderte Menschen selbst, wissenschaftliche Expertinnen und Experten sowie Akteure des politisch-administrativen Systems dem Behindertensport zuschrieben. Stand in den 1950er Jahren noch der Zweck einer Heiltherapie zur "Wiedererlangung der Arbeitskraft" kriegsversehrter Männer im Vordergrund, gewannen eher auf aktive Freizeitgestaltung und zuletzt auch an Leistung und Wettkampf orientierte Interpretationen nach und nach an Gewicht. Weder die Ausweitung der Zielgruppen, noch die Erweiterung der mit ihm verbundenen Funktionen verliefen konfliktfrei. An den Debatten, was Behindertensport bedeuten solle und welche Gruppen behinderter Menschen ihn betreiben dürften, waren mehrere Akteursgruppen beteiligt. Zunächst sind dabei Personen zu nennen, die im Behindertensportverband einen Funktionärsposten innehatten und ihrem Selbstverständnis nach die Interessen der Mitglieder vertraten. Sie pflegten insbesondere in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten einen engen Kontakt zu Kriegsopferverbänden, die bei der Etablierung flächendeckender Verbandsstrukturen behilflich waren. Ab den 1970er Jahren trat mit der "Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind" (Lebenshilfe) eine zusätzliche Interessenorganisation auf, die sich mit der Freizeitgestaltung behinderter Menschen befasste. Zwei weitere Akteursgruppen, die zwar außerhalb der Verbandsorganisation behinderter Menschen (oder deren Eltern) standen, aber die Debatten über den Behindertensport signifikant prägten, waren Vertreter staatlicher Politik und Wissenschaftler. Letztere Gruppe umfasste vor allen Dingen medizinische Experten, die sich mit möglichst zweckdienlichen Therapie- und Sportformen beschäftigten und einen hohen Einfluss auf die inhaltli-che Gestaltung des Behindertenspo…


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